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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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läse ich. Die Uhr tickte. Seth tauchte nicht auf.
    An dunklen Tagen wie diesen wirkten die Fenster der Bibliothek wie ein beleuchtetes Aquarium, und die darin Sitzenden wurden für all die anderen Kinder gut sichtbar zur Schau gestellt: hier die exotischsten Fische, die Einsamen, die Ungeliebten, die Seltsamen.
    Bis zum Abend war Sylvias Eukalyptus zersägt, und die Stücke lagen aufgestapelt wie blanke Knochen. Eine weiße Plastikplane überdeckte nun das Loch im Dach und raschelte immer, wenn der Wind wehte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen.
    Mein Vater untersuchte an jenem Abend sehr ausführlich den letzten Eukalyptusbaum in unserem eigenen Garten. Eine Hälfte davon produzierte weiterhin Blätter, aber die andere Hälfte war tot, und der Tod schien sich auszubreiten. Ehe wir zu meinem Geburtstagsessen losfuhren, rief mein Vater eine Baumfällfirma an.
    Meine Mutter kam mit einem Geschenk für mich nach Hause: ein Paar goldene Ballerinas in Knitteroptik. Die anderen Mädchen in der Schule trugen sie seit Monaten. Ich zog sie an. Sie quietschten auf dem Fliesenboden.
    Von meinem Vater bekam ich ein Buch.
    »Das war mein Lieblingsbuch, als ich ungefähr in deinem Alter war«, sagte er. Auf dem Umschlag war ein Gebirge, ein Tal, ein Mond. Die Seiten rochen nach Staub und Schimmel. »Es geht um einen Jungen, der ganz allein auf der Welt ist. Lange Zeit ist er sehr einsam. Aber dann, na ja, du wirst es ja sehen.«
    Ich erinnerte mich daran, dass dieses Buch zwei oder drei Jahre vorher durch unser Klassenzimmer gereicht wurde. Ich hatte es nicht gelesen, aber jetzt war ich zu alt dafür.
    »Danke.« Ich presste es auf meinen Schoß.
    Er drückte meine Schulter. Wir brachen auf.
    »Was für ein Glück, dass ich an deinem Geburtstag nicht krank bin«, sagte meine Mutter, während wir Richtung Osten zu meinem Großvater fuhren. Wir holten ihn auf dem Weg zu meinem Lieblingsrestaurant ab. Ich freute mich darauf, ihn zu sehen. Seine Stimme hatte so eine Art, alles andere zu durchdringen.
    »Ich finde immer noch, wir hätten eine Party machen sollen«, sagte meine Mutter. »Wir sollten die schönen Dinge feiern.«
    »Das tun wir doch«, sagte mein Vater. Er warf im Rückspiegel einen Blick auf mich. »Das ist das, was sie sich gewünscht hat.«
    Die Landschaft sah jedes Mal, wenn wir diese Fahrt unternahmen, weniger lebendig aus. Es waren nicht nur das Gras und die Eukalyptusbäume. Es gab auch weniger ausgeprägte Anzeichen. Ich war mir sicher, dass das Ufer der Lagune brauner als früher war, dass die Rohrkolben und das Schilf nicht mehr so dicht wuchsen. Wir vermieden es, das laut auszusprechen – vorerst hatten wir die Gewächshäuser und die Wachstumslampen, um uns zu ernähren –, aber es war schwer darüber hinwegzusehen, dass die Pflanzen still und leise dahinschwanden, eine schleichende Verödung. Gott weiß, was auf den weniger begünstigten Kontinenten passierte. Aber der Golfplatz, an dem wir vorbeikamen, sah besser denn je aus, üppiger und makelloser als jemals zuvor im Leben. Das gesamte Grün war durch einen hochmodernen Kunstrasen ersetzt worden, und nun zuckelten Golfwagen langsam über die Hügel: der Golfplatz im Jenseits.
    »Ich verstehe nicht, warum wir Hanna nicht einladen konnten«, sagte meine Mutter. Sie drehte sich im Sitz zu mir um, der Gurt schnitt ihr in den Hals ein. »Ihr beiden wart mal so gut befreundet.«
    »Sind wir aber nicht mehr«, sagte ich.
    Das Grundstück meines Großvaters sah schlimmer aus als sonst. Er hatte sich geweigert, auch nur einen seiner Eukalyptusbäume zu fällen. Manche ragten kahl und trostlos vor dem Himmel auf. Andere waren umgestürzt. Wenigstens die Kiefern standen noch und verbargen sein Haus weiterhin vor der Straße und der umliegenden Siedlung.
    Wir bogen in seine Einfahrt. Ich sprang auf den Kies hinaus, rannte zur Tür. Meine Eltern warteten bei laufendem Motor im Auto.
    Er machte nicht auf, also klingelte ich erneut. Ich klopfte. Ein paar Mücken schwirrten um das Verandalicht herum. Hinter mir wurde der schwarze Himmel endlich blasser und hellte sich ganz schwach auf. Ein langsamer Sonnenaufgang begann. Ich drehte am Türknauf: Es war abgeschlossen.
    Ich lief zurück zum Wagen, meine Ballerinas knirschten laut auf dem Kies.
    »Er macht nicht auf.«
    »Vielleicht hat er vergessen, sein Hörgerät anzuziehen«, sagte mein Vater.
    Er stellte den Motor ab und folgte mir zurück zum Haus. Meine Mutter machte die Tür einen Spalt auf, um Luft

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