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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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war ein steiler und sandiger Weg, übersät von Kiefernzapfen und beschattet von Kalksteinvorsprüngen. Der Canyon roch wie immer, nach Erde und Salbei, aber die Farben Kaliforniens wurden nach und nach eintöniger. Sämtliche Grüntöne verschwanden. Fast alles ging ein. Dennoch schwirrte die Schlucht vor Käfern und Moskitos und Fliegen – was die Vögel früher gefressen hatten, gedieh immer noch, ungejagt.
    »Pass auf Schlangen auf«, sagte Seth.
    Mir gefiel Seths Gang: locker und gemächlich, ein Junge, der seinen Weg kannte. Ich war das Mädchen, das neben ihm lief, also ging ich auch so.
    Der Weg wand sich um eine Kurve, und der Strand kam in Sicht. Es war Ebbe – niedriger, als ich je gesehen hatte. Die Verlangsamung brachte die Gezeiten völlig durcheinander. Mindestens hundert Meter Meeresgrund lagen frei, der Sand von Eisenstückchen schwarz gesprenkelt. Das waren die Eingeweide des Ozeans, entblößt.
    Wir blieben einen Moment lang auf dem Weg stehen, betrachteten einfach nur das Meer, Seite an Seite. Unsere Hände waren einander so nah, dass sie sich beinahe berührten.
    Dann überquerten wir die Küstenstraße, duckten uns unter dem Absperrband durch und kürzten über das Gelände zwischen zwei zerstörten Villen ab, die noch nass von der letzten Flut waren. Ein Haus war in sich zusammengefallen wie ein Kuchen. Die Wände waren dicht mit Seepocken übersät. Seeanemonen bedeckten die Stufen vor dem Eingang.
    Ich bückte mich, um meine Schuhe auszuziehen.
    »Schau mal«, sagte Seth.
    Und da waren sie: die Wale, dunkel und reglos, von prähistorischer Größe.
    Eine kleine Menschenmenge hatte sich am Strand versammelt. Barmherzige Samariter kippten Salzwasser auf die Wale. Andere Freiwillige kehrten gerade von der weit entfernten Ebbe zurück, schwankend unter dem Gewicht von Eimern voll frischem Meerwasser.
    Wir konnten die Wale atmen hören, ein langsames Heben und Senken. Wir lauschten. Wir beobachteten. Sie waren soziale Wesen; die ganze Gruppe litt unter dem Leid jedes einzelnen Individuums. Es war unübersehbar, dass sie im Sterben lagen. Aber wir konnten nichts dagegen tun: Wir waren fasziniert.
    Seth hob zwei leere Plastikbecher aus dem Sand auf. Es war uralter Müll. Er gab mir einen.
    »Wir müssen was tun«, sagte er. »Komm mit.«
    Barfuß rannten wir zum Wasser hinunter, die Becher in der Hand. Es war ein weiter Weg. Der Schlamm saugte an unseren Füßen. Lebewesen glitten unsichtbar unter meinen Zehen her. Tote Fische glitzerten in der Sonne, meine Haare wehten im Wind. Als wir schließlich das plätschernde Wasser erreichten und uns umdrehten, waren die Menschen am Strand kaum noch zu erkennen. Ihre haarfeinen Arme und haarfeinen Beine flatterten lautlos um die Wale herum. Das einzige Geräusch war das Wogen des Meeres.
    Eilig füllten wir unsere Becher mit Wasser und rannten dann über den breiten Streifen Schlamm zurück. Wir suchten nach dem trockensten Wal, dem hilfsbedürftigsten. Wir fanden ihn am Rande der Gruppe, und wir stellten uns vor, er wäre älter als die anderen. Seine Haut war von Narben weiß gestreift. Ich verscheuchte Fliegen aus seinen Augen, ein Auge nach dem anderen. Seth goss unseren spärlichen Wasservorrat über seinen Kopf und in sein Maul. Er streichelte seine Seite. Ich spürte eine Eindringlichkeit wie Liebe.
    »Hey, Kinder«, rief jemand hinter uns. Es war ein Mann mit einem Strohhut, einen schaukelnden, leeren weißen Eimer in der Hand. Ein Windstoß übertönte seine Worte, daher wiederholte er laut: »Der da ist schon tot.«
    Wir waren ernst, als wir durch den Canyon zurück nach oben kletterten. Uns war heiß, wir waren erschöpft. Es war die dreiundzwanzigste Stunde Tageslicht. Die Sonne hatte noch nicht zu sinken begonnen.
    »Das Magnetfeld macht das«, sagte Seth.
    »Was?«
    Ein starker Wind wehte durch den Canyon und wirbelte Staub und trockenes Laub auf.
    »Deshalb werden die Wale auf den Strand geschwemmt. Sie benutzen das Magnetfeld zur Orientierung, und jetzt lässt es wegen der Verlangsamung nach.«
    Ich sah in den Himmel, ein glattes, makelloses Blau.
    »Man kann es nicht sehen«, sagte Seth. »Es ist unsichtbar.«
    Das waren nur die ersten Wale. Hunderte weitere würden schon bald an der kalifornischen Küste stranden. Dann tausende. Zehntausende. Mehr. Irgendwann versuchten die Leute nicht mehr, sie zu retten.
    »Nicht nur die Wale brauchen das Magnetfeld«, erklärte Seth, als wir den Rand des Canyons erreichten und unsere ersten Schritte

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