Ein Jahr voller Wunder
hereinzulassen.
Mein Vater hatte einen Schlüssel. Er sperrte auf, und wir traten ein.
»Papa?«, rief mein Vater. Im Haus war es heiß und still. Das einzige Geräusch war das Ticken der Uhren. Das einzige Licht die Deckenlampe in der Küche. »Wir sind da.«
Die Fenster waren geschlossen und die Regale so leer wie bei meinem letzten Besuch.
»Wo ist denn alles?«, fragte mein Vater. Er strich mit dem Finger über ein kahles Regalbrett. Dann spähte er durch die Tür einer Mahagonivitrine, deren Eingeweide aus Porzellan und Kristall verschwunden waren.
»An Silvester«, sagte ich. »Da hat er sein Zeug irgendwie sortiert.«
»Wie meinst du das?«
An den meisten Sonntagen gingen wir mit meinem Großvater essen. Normalerweise wartete er schon abfahrbereit auf der Veranda auf uns und behauptete, wir seien zu spät.
»Er hat auch ein paar von seinen Sachen in Kartons verpackt«, sagte ich.
»Was?« Besorgnis flackerte über die Miene meines Vaters. »Aber ich habe doch gestern Abend erst mit ihm gesprochen.«
Die Kartons waren weg. Der Tisch leer. Alles von Wert war verschwunden. Wir sahen in seinem Schlafzimmer nach und fanden das Bett leer und ungemacht. Wir öffneten den Schrank: Mindestens die Hälfte seiner Kleidung fehlte, vielleicht einige Paar Schuhe.
In der Küche entdeckten wir einen Stapel obskure Infoblätter und Prospekte. Eine kleine Zeitung wurde von dieser Überschrift beherrscht: Was vor Ihnen verheimlicht werden soll: die Wahrheit über die »Uhrenzeit« . An den Kühlschrank war eine politische Karikatur geklebt, auf der Menschen mit glasigem Blick durch die Straßen wanderten. Die Unterschrift lautete: Die Uhren-Zombies .
Hinter uns kam meine Mutter herein.
»Wo ist er denn?«, fragte sie.
»Weiß ich nicht«, sagte mein Vater.
»Oh mein Gott«, sagte meine Mutter. »Das Haus sieht aus, als wäre es ausgeraubt worden.«
»Julia sagt, sie hat ihn packen sehen.«
Etwas brodelte in meinem Vater, eine schnelle Strömung unter Eis.
»Nicht unbedingt packen«, sagte ich.
Meine Mutter drehte sich panisch zu mir um.
»Du musst mal mit der Geheimniskrämerei aufhören, mein Fräulein.«
Draußen rief mein Vater den Namen meines Großvaters, rief ins Morgengrauen: »Papa, bist du da?« Durch das Fenster sah ich ihn den alten Stall absuchen, den Garten, den sterbenden Wald am Rand des Grundstücks.
Mein Großvater konnte nicht mehr Auto fahren. Er besaß nicht mal einen Wagen. Allein wäre er nicht weggekommen. Er war auf uns und auf Chip, den Teenager, der in seiner Straße wohnte, angewiesen, um seine Einkäufe und Besorgungen zu erledigen.
»Er ist zu alt, um allein zu leben«, sagte meine Mutter. »Wir hätten es wissen müssen.«
Ich spürte Tränen in den Augen.
Mein Vater lief zu Chips Elternhaus, das eines der neuen in der normalen Siedlung war.
Gleichzeitig fing meine Mutter an, die Telefonnummern anzurufen, die am Kühlschrank meines Großvaters hingen. Großteils waren es Mitglieder seiner Kirche, der Telefonkette, der Fahrgemeinschaft. Das Haus roch noch nach meinem Großvater, nach Mundspülung und altem Papier. Eine antike Uhr im Wohnzimmer schlug sieben Mal. Die Stimme meiner Mutter brach, als sie ihre Handynummer hinterließ, für den Fall, dass er auftauchte.
Bald kehrte mein Vater mit Neuigkeiten zurück: Chip hatte die Schule abgebrochen und war weggezogen.
»Und wohin?«, fragte meine Mutter.
Mein Vater rieb sich die Stirn und blinzelte ein langsames Blinzeln. Ein Streifen Sonne hatte sich über den Horizont geschoben und schien durch die Fenster herein, beleuchtete den Staub, der überall in diesem Haus schwebte. Damals wurde die Ankunft des Sonnenscheins normalerweise von einer gewissen Euphorie begleitet – nach so vielen Stunden in der Dunkelheit –, doch an jenem Abend bemerkten wir sie kaum. Wir blinzelten nur alle wegen der Helligkeit.
»Seine Mutter sagt, Chip wollte zu diesem Ort in der Wüste«, sagte mein Vater. »Circadia. Gestern Abend ist er losgefahren.«
26
C ircadia existierte auf keiner Karte. Im Straßenatlas entdeckten wir an der Stelle, wo es sich laut unseren Informationen befinden sollte, nur einen leeren Fleck, eine schwache Falte in der Seite, ein blasses Beige, das Wüste darstellen sollte. Und so war es, als steuerten wir einen fiktiven Ort an, ein Fantasieland, erträumt oder erfunden. Und in einem gewissen Sinne stimmte das auch. Sobald wir in der Wüste wären, würden wir von der zweispurigen Schnellstraße auf eine schmale
Weitere Kostenlose Bücher