Ein Jahr voller Wunder
Haus zugingen. Ich konnte den Himmel in den Gläsern sehen. Er war allgegenwärtig, dieser Himmel, irgendwie weiter in der Wüste, sichtbarer als überall sonst auf der Erde.
»Sind Sie seine Eltern?«, meinte sie, als mein Vater nach Chip fragte. Aus dem Haus wehten Gitarrenakkorde in Wellen zu uns heraus. Jemand sang. Es war so heiß, dass ich kaum Luft bekam.
»Wir möchten nur mit ihm sprechen«, sagte meine Mutter.
Das Mädchen nahm einen langen Zug und atmete aus. Sie hielt die Zigarette mit zwei Fingern auf Hüfthöhe. Der Rauch roch anders als normaler: nach Nelken.
»Ich glaube, er ist hinten auf der Terrasse.« Sie deutete mit dem Kopf Richtung Haustür, rührte sich aber nicht. »Es ist offen.«
Innen fanden wir ein Wohnzimmer ohne Möbel, aber mit Schlafsäcken ausgelegt, von denen mindestens einer gerade besetzt war. Ein Deckenventilator drehte sich träge und wälzte heiße Luft um.
»Hallo?«, sagte mein Vater. Er sah sich um. Er schien nicht zu wissen, wo er stehen sollte. Im Flur war ein Mülleimer übergequollen. Leere Weinflaschen lagen wie Bowlingkegel auf dem Holzfußboden.
Die Musik kam aus der Küche, wo zwei Mädchen – beide so schlank wie das vor dem Haus – auf nicht zusammenpassenden Stühlen saßen, während ein Junge mit freiem Oberkörper Gitarre spielte.
Der Junge bemerkte uns zuerst. Die Musik brach ab.
»Ja?«, sagte er.
Träge drehten sich die Mädchen zu uns um. Ihre Augen waren wässrig und rot. Sie lachten, sobald sie uns sahen. Meine kleine Familie stand in der Küche von Fremden.
»Wir sind auf der Suche nach Chip«, sagte mein Vater. Seine Worte – knapp und schnell – zerschnitten peinlich die Luft. In dem Moment glaubte ich, sie zu spüren, die Langsamkeit des Hauses um uns herum, das schleppende Tempo, in dem die Zeit sich an diesem Ort entfaltete.
Die Mädchen warfen einen Blick zum hinteren Teil des Hauses.
»Hey, Chip«, rief der Junge. »Dein Papa ist da.«
Die Mädchen lachten, und der Junge fing wieder zu spielen an.
Sie waren Collegestudenten, oder waren es früher gewesen – ich hatte gehört, sie brachen zu tausenden ab, stahlen Uhren aus den Unterrichtsräumen und zerschlugen sie auf der Straße.
Chip sah aus wie immer: schwarzes T-Shirt und abgeschnittene schwarze Shorts, schwarze Turnschuhe, schwarz gefärbte Haare. Im Schatten eines ausgefransten Schirms las er auf einem ausgeblichenen Liegestuhl ein Buch.
Er war erschrocken, uns zu sehen.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte er.
»Ist mein Vater mit Ihnen hergekommen?«
Doch inzwischen klang die Frage lächerlich. Mein Großvater war nicht in diesem Haus.
»Nein«, sagte Chip. Er legte das Buch flach auf seinen Schoß. »Warum?«
Ein paar Schritte entfernt lag ein junges Pärchen ineinander verschlungen auf einer Gartenliege. Sie bemerkten uns nicht, oder es war ihnen egal. Sie küssten sich lange, und meine Mutter hielt sich demonstrativ die Hand seitlich vors Gesicht, um sie nicht ansehen zu müssen.
Mein Vater zeigte Chip eines der Flugblätter, die wir im Haus meines Großvaters gefunden hatten.
»Ich weiß, dass er die Uhrenzeit auch für totalen Quatsch hält«, sagte Chip. »Aber wenn er nicht zu Hause ist, weiß ich auch nicht, wo er sein könnte.«
Die Terrasse war nicht umzäunt. Es gab keinen Garten. Sie öffnete sich einfach zur Wüste hin, wo ein ausgedehntes Feld von Solarzellen in der Sonne funkelte.
»Da kriegen wir unseren Strom her«, sagte Chip, als er merkte, dass ich es betrachtete.
Das öffentliche Verteilernetz reichte nicht bis hierher. Auch Wasser musste per LKW herangeschafft werden.
»Sie sollten sich überlegen, sich uns hier draußen anzuschließen«, sagte Chip. »Sie wissen schon, tune out, drop in .«
»Es heißt tune in , drop out«, sagte meine Mutter. Sie fächelte sich theatralisch mit einer Zeitschrift, die sie aus ihrer Handtasche geholt hatte, Luft zu. »Kommt, wir fahren.«
Mein Vater schrieb seine Handynummer auf einen Zettel und gab ihn Chip.
»Wenn Sie ihn sehen oder von ihm hören sollten, rufen Sie bitte an.«
Chip brachte uns durchs Haus und vor die Tür. Die Mädchen lachten immer noch, als wir an ihnen vorbeigingen. Sie konnten anscheinend nicht aufhören.
»Wahrscheinlich halten Sie uns hier für einen Haufen Träumer«, sagte Chip. Das Mädchen neben ihm zündete sich eine weitere Zigarette an. »Aber es ist genau umgekehrt. Nicht wir verschließen die Augen vor der Wirklichkeit.«
Der Wind wurde stärker und blies Staub
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