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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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konnte sehen, was der Bauunternehmer vorgehabt hatte: zwölf Straßen mit der Bestrebung, eine Ortschaft zu werden. Der nächste Lebensmittelladen war eine Stunde entfernt.
    Obwohl es halb elf Uhr abends war, wachte Circadia gerade erst auf. Fünfundzwanzig Stunden Tageslicht erstreckten sich vor uns. In der Ferne hallte Gehämmer. Irgendwo surrte eine Säge.
    Ein Mann in einem verblassten blauen T-Shirt und einem breitkrempigen Hut hockte auf einer Kieseinfahrt und goss weiße Farbe in eine Wanne. Neben ihm lehnte eine Leiter am Haus.
    Mein Vater hielt an und ließ das Fenster herunter. Es war schwer, in der Wüstenluft zu atmen.
    »Entschuldigung«, rief mein Vater aus dem Auto.
    Der Mann wandte sich um und blinzelte.
    »Ich suche meinen Vater. Er ist Mitte achtzig und heißt Gene. Haben Sie ihn vielleicht gesehen?«
    Der Mann kam zu unserem Wagen. Sein Gesicht war stark von der Sonne verbrannt, und auf Wangen und Kinn zeigte sich der Schatten eines schwarzen Bartes.
    »Hat er Ihnen gesagt, er wollte hierher?«, fragte er, als er am Fenster meines Vaters ankam.
    In meiner Vorstellung waren die Bewohner von Circadia nicht nur den Uhren entflohen, sondern hatten irgendwie auch die Zeit selbst abgeschüttelt. Ich forschte im Gesicht des Mannes nach Anzeichen dafür, dass er anders war als wir, irgendwie verändert. Aber ich dachte mir, die Verwandlung könnte tiefer sein, molekular, als kreiste jedes Atom in seinem Körper gerade etwas langsamer als die Atome in unseren. Schweiß tropfte ihm vom Haaransatz. Schweiß zeichnete sich durch sein T-Shirt ab.
    »Er wäre gestern Abend angekommen«, sagte mein Vater, der immer noch sein weißes Hemd trug. Seine Armbanduhr blitzte in der Sonne. Die Klimaanlage kämpfte gegen die flirrende Hitze an.
    Der Mann sah mich durch die Scheibe an. Er kaute auf seiner Unterlippe. Ich nahm das Ticken der Uhr in unserem Armaturenbrett wahr, die das Verstreichen einer weiteren Minute in Leuchtziffern anzeigte; unser Volvo war ein eigenes Universum, in dem die Zeit mit hoher Geschwindigkeit vorbeiraste.
    »Er könnte mit einem 17-jährigen Jungen gekommen sein.« Meine Mutter beugte sich zur Fahrerseite hinüber. »Er heißt Chip.«
    Der Mann rieb sich mit dem Handgelenk die Stirn. Er fasste an seine Hutkrempe.
    »Wenn er Ihnen nicht gesagt hat, dass er herkommt«, sagte er, »wollte er vielleicht nicht, dass Sie es wissen.«
    Wir gaben auf und fuhren weiter. Aber der Mann stand noch eine Zeitlang in seiner Einfahrt, die Hände in den Hüften, und sah unserem Auto nach.
    An einer Weggabelung bogen wir rechts ab und stießen auf eine Frau, die mit einem hellen Labrador spazieren ging.
    »Tut mir leid«, sagte sie. »Die hab ich nicht gesehen.«
    Sie lief weiter.
    »Nicht gerade ein freundlicher Haufen«, sagte meine Mutter.
    Wir kamen an einer Reihe von Gewächshäusern vorbei. Überall flatterten Bettlaken an Wäscheleinen.
    Am Ende einer Sackgasse lag etwas, das offensichtlich ursprünglich als Gemeinschaftspool gedacht und bestimmt in den anfänglichen Broschüren für das Projekt angepriesen worden war. Aber es war nur ein trockenes Loch im Boden, tief am einen Ende, flach am anderen und noch nicht mit Beton ausgekleidet.
    Neben dem Becken befand sich ein kleiner Spielplatz, wo ein Mädchen im grünen Sommerkleid auf einer der Schaukeln saß, das braune Haar im Wind wehend. Ich kannte sie vom Fußballtraining: Molly Kopachek.
    »Halt mal an.« Ich machte das Fenster auf.
    »Molly?«
    Sie blickte auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht und drehte sie zu einem Knoten fest. Wir waren ein Jahr lang zusammen Verteidiger gewesen, aber sie war nicht der leistungsorientierte Typ. Während der Spiele pflückte sie immer Löwenzahn im Strafraum.
    Jetzt hüpfte sie von der Schaukel und kam an mein Fenster, ihre Sandalen knirschten auf der Erde.
    »Zieht ihr auch hierher?«, fragte sie.
    Hinter ihr stand ein Gerüst, eine Holzkonstruktion, die entfernt an ein Haus erinnerte.
    »Wir suchen nur meinen Opa«, sagte ich.
    Sie hatte ihn nicht gesehen, aber als ich Chips Namen nannte, deutete sie über die Straße.
    »Ich glaube, in dem Haus da drüben wohnt vielleicht ein Chip.«
    Mein Vater zog die Handbremse an.
    Von außen war das Haus mit grauem Grobputz verkleidet. Farbeimer lagen herum.
    Ein sehr dünnes Mädchen in einem weißen Top rauchte vor der Tür eine Zigarette. Sie war schmächtig und blass, ihr Kopf geschoren, und sie betrachtete uns durch eine riesige Sonnenbrille, als wir auf das

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