Ein Jahr voller Wunder
es nicht mehr. Es kümmerte mich nicht mehr, was sie dachten.
»Er macht einen netten Eindruck«, sagte meine Mutter. »Laden wir ihn doch mal zum Essen ein.«
Aber ich wollte einfach nur allein mit Seth sein. Ich wollte niemand anderen dabeihaben.
An dem Tag, als wir den Weizenpunkt überschritten, war ich auch mit Seth zusammen. Jetzt war es offiziell: Weizen konnte auf diesem Planeten nicht länger ohne die Hilfe von künstlichem Licht wachsen. Von einem Hügel aus sahen wir zu, wie Einkaufswagen im Zickzack über den Supermarktparkplatz flitzten, vollgeladen mit Konserven. Die Panik war zurück. Man konnte sie in der Luft spüren, ein Kribbeln, wie ein Geschmack hinten in der Kehle.
»Würdest du lieber verhungern?«, fragte Seth. »Oder verdursten?«
Das hatte sich für uns zu einem Spiel entwickelt. Wir waren ernsthafte Kinder, und die Zeiten hatten diese Eigenschaft gefördert.
»Verhungern«, sagte ich. »Und du?«
»Verdursten.« Er trat einen Stein den Abhang hinunter. Staub sprühte hinterher. Der Stein verschwand in einem Nest vertrockneten Eiskrauts. Seth wählte immer den schnellsten Tod.
Als das Gewächshaus meiner Mutter geliefert wurde, war Seth gerade bei uns. Wir sahen den Handwerkern zu, während sie es im Garten aufbauten. Das Glas glitzerte, als sie die Pflanzenlampen montierten und die Erde hineinschütteten. Wir verfolgten, wie sie ein orangefarbenes Stromkabel entrollten und den dicken Stecker in eine Außensteckdose einstöpselten. Wir gehörten zu den letzten Familien in unserer Straße, die eins bekamen. Meine Mutter hatte es bestellt, ohne es mit meinem Vater zu besprechen, und während sie kleine Pflanzen in die Erde setzte, sah er ihr aus dem Haus zu, die Arme am Esstisch verschränkt. Dann ging er nach oben. Am Ende dieses Tages wuchsen zwei Reihen grüne Bohnen und drei Reihen Erdbeeren in unserem Gewächshaus.
»Erdbeeren sind Verschwendung«, sagte mein Vater. »Wenn wir schon was anpflanzen, dann besser Pilze. Die sind nicht so auf Licht angewiesen.«
Auch unsere Stadt wurde von einer Verbrechensserie in den weißen Nächten erschüttert. Beschuldigt wurden die Echtzeiter. Wer sonst wäre zu so später Stunde unterwegs? Die Scheiben von Sylvias Auto wurden in ihrer Einfahrt eingeschlagen. Bald sprühte jemand mit dicken, tropfenden Worten an ihre Garage: Verpiss dich .
Ich machte mir Gedanken, was mein Vater dabei wohl empfand, aber ich fragte nicht, und er sagte nichts.
Mir kam es vor, als verginge die Zeit in jenem Frühling mit Hochgeschwindigkeit. Seths Haare wurden wieder lang und fielen ihm in die Augen. Ich ließ mir den Pony wachsen, und Seth sagte, es gefiele ihm. Ich fing an, mir die Beine zu rasieren, und kaufte mir einen richtigen BH – einen, der passte, dieses Mal. Eines dunklen Nachmittags brachte Seth mir das Skateboardfahren bei, und ich weiß noch genau, wie sich seine Hand auf meinem Rücken anfühlte, als er im Schein der Straßenlaternen neben mir hertrabte, während ich zufrieden über die Risse im Bürgersteig wackelte.
Nach der Schule gingen wir in den Canyons auf die Suche nach Vogelskeletten – sie waren überall, eine Fülle von Knochen und Federn, so reichlich vorhanden wie Muscheln. Wir forschten nach dem letzten lebenden Eukalyptus, den wir, da waren wir ganz sicher, verkümmernd auf der Kante eines Sandsteinsteilhangs am Meer fanden. Wir sammelten die verbliebenen Grashalme der Nachbarschaft. Wir bewahrten die letzten Blüten von Gänseblümchen, von Ringelblumen, von Jelängerjelieber auf. Wir pressten Blätter zwischen den Seiten von Wörterbüchern. Wir füllten unsere Regale mit Relikten unserer Zeit – sieh mal , malten wir uns aus, eines Tages zu erzählen, den hier nannten wir Ahorn, den hier Magnolie, den Espe, den Eiche . An dunklen Tagen zeichnete Seth Karten der Sternbilder, als könnten auch diese Körper bald schon verschwinden.
Seths Vater war häufig in seinem Labor. Er verließ das Haus früh. Er kehrte spät zurück. Er war der Kaffeebecher in der Küchenspüle, die Zigaretten im Aschenbecher draußen im Garten, der über das Geländer geworfene Laborkittel. Er war der Name auf den Briefumschlägen, die sich ungeöffnet hoch neben der Tür stapelten, eine Stimme am Telefon, die Seth aufforderte, eine Pizza zu bestellen und ohne ihn zu essen. Meine Eltern ahnten nicht, wie selten Seths Vater zu Hause war, wenn ich dort war.
An dem Tag, als der Strom ausfiel, saßen wir allein bei Seth zu Hause.
Der Fernseher ging
Weitere Kostenlose Bücher