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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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und Müll in kleinen Wirbeln über die Straße. Bald würden wir diesen Ort verlassen, und ich würde auf meinen Herzschlag horchen, versuchen zu spüren, wie er sich beschleunigte.
    »Wir sind die Realisten«, fügte Chip hinzu. »Ihr seid die Träumer.«

27
    M ein Großvater hatte einmal einen Onkel gehabt, der in Alaska verschwand. Es war 1970, Frühsommer in der Nähe des Polarkreises, zweiundzwanzig Stunden Helligkeit am Tag. Er war ein Fischer, der dreißig Jahre vorher aus Norwegen nach Alaska gekommen und in einem bestimmten Küstenabschnitt eine Legende geworden war, weil er die Begabung hatte, vorauszusehen, wo sich die meisten Lachse auf ihrer Laichwanderung versammeln würden. Ganz allein lebte er auf einer winzigen Insel ein paar Kilometer vor der Küste. Er war genügsam. Er schlief in einer einfachen Holzhütte ohne Strom oder fließend Wasser, und das Geld, das er verdiente, vergrub er an einem geheimen Platz auf der Insel. Mein Großvater arbeitete zwei Lachssaisons für diesen Onkel, und noch jahrzehntelang bewahrte er ein kleines Foto auf, auf dem sein Onkel Watstiefel und eine schwarze Strickmütze trug und ein verknotetes Netz über die dicken Fingerknöchel gelegt hatte.
    Eines Tages brach dieser Onkel allein mit seinem Fischerboot auf. Es war eine kurze Fahrt, vom Hafen zur Insel. Der Himmel war klar. Das Meer war ruhig. Er wurde nie wieder gesehen.
    »Es war Juni«, sagte mein Großvater oft, als wäre er an jenem Tag dabei gewesen. 1970 lebte mein Großvater schon wieder in Kalifornien, aber wann immer er diese Geschichte erzählte, machte er eine ausladende Geste mit der flachen Hand, um zu verdeutlichen, wie glatt der Ozean an dem Tag, an dem sein Onkel verschwand, gewesen war.
    »Das Wetter war ideal«, fuhr er dann fort. »Kein Hauch von Wind.«
    Man nahm an, sein Onkel wäre der See zum Opfer gefallen. Doch mein Großvater glaubte das nie. Mehrere Suchaktionen auf seinem Land hatten das vergrabene Vermögen nicht zutage gefördert.
    »Rolf hatte auf dem Wasser alles im Griff«, sagte er häufig. »Völlig ausgeschlossen, dass das Boot gesunken ist.«
    Fünfzehn Jahre vergingen. Niemand hörte von dem Onkel.
    Und dann machten meine Großeltern eine Reise nach Norwegen – das war Jahre vor meiner Geburt. Im nördlichen Teil des Landes, wo die Verwandten meines Großvaters lebten, fuhren sie mit einem Bus. Als der Bus in einem kleinen Fischerdorf hielt, stieg ein alter Mann ein.
    »Ich wusste sofort, dass er es war«, erzählte mein Großvater mir immer.
    An dieser Stelle der Geschichte schüttelte er langsam den Kopf, schloss die Augen und pfiff leise, zufrieden mit dem leibhaftigen Beweis einer lang geahnten Wahrheit.
    »Ich wusste immer, dass er am Leben ist«, sagte er dann. »Immer wusste ich es.«
    Einmal verlor mein Großvater seinen Ehering – er rutschte ihm vom Finger und fiel in eine alaskische Schneewehe –, fand ihn aber Monate später, im Frühling, wieder. Der Schnee war geschmolzen. Der Goldring lag auf der Erde. Finger wurde wieder mit Ring vereint. Mein Großvater mochte Geschichten, in denen das Unwahrscheinliche sich als wahr herausstellte.
    »Aber warum ist Rolf überhaupt verschwunden?«, fragte ich immer. Doch für meinen Großvater war das kein Schlüsselelement der Geschichte. Oder vielleicht waren in seinen Augen die Gründe für einen Mann, sein altes Leben hinter sich zu lassen, zu offensichtlich, um sie zu nennen.
    »Ich weiß, dass er mich in dem Bus erkannt hat«, erzählte mein Großvater. »Aber er hat nichts gesagt. Bei der nächsten Haltestelle ist er einfach aufgestanden und ausgestiegen. Hat sich nicht mal umgedreht.«
    Mein Großvater sah diesen Onkel nie wieder. Er verschwand einfach in den Wald am Straßenrand.
    »Das war typisch Rolf.« Eine gewisse Bewunderung knisterte dann in der Stimme meines Großvaters. »Typisch Rolf.«
    Es war schon nach Mitternacht, als wir aus Circadia zurückkamen. Unsere Straße war hell und still, fast jeder schlief. Es war die leblose Mitte einer strahlend weißen Nacht. Die Sackgasse wirkte wie evakuiert. Nicht einmal Sylvia war draußen. Das Zuschlagen unserer Autotüren wurde von der Fassade zurückgeworfen. Zwei Wolken jagten auf der Brise westwärts. Das einzige Lebenszeichen war eine im Sonnenlicht blinzelnde dünne Siamkatze, die quer über den Kunstrasen der Petersons spazierte.
    Meine Eltern blieben die ganze Nacht auf und telefonierten die Krankenhäuser ab.
    Ich zog meine Vorhänge zu und versuchte zu

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