Ein Jahr voller Wunder
Roosevelt Hotel ankündigte. Es war das erste Mal, dass ich je zu einer der großen Tanzpartys eingeladen worden war, und ich fragte mich, ob es wohl an Seth lag. Hätte ich diesen Umschlag nur wenige Monate vorher aufgerissen, wäre ich froh und dankbar gewesen.
Aber Seth und ich beschlossen sofort, nicht hinzugehen.
»Ich hasse diese Sachen«, sagte er. »Und Michaela geht mir auf die Nerven. Sehen wir uns lieber bei mir zu Hause Filme an.«
»Du kommst nicht?«, sagte Michaela am nächsten Tag in der Schule zu mir. »Soll das ein Witz sein?«
Sie hatte hundert andere Kinder eingeladen: Es würden mehr als genug Leute kommen.
»Das ist einfach nicht mein Ding«, sagte ich.
Ihr Mund wurde verkniffen.
»Heißt das, Seth kommt auch nicht?«
Ich war irrsinnig stolz, dass sie uns beide als zusammengehörig betrachtete.
»Ich glaube nicht«, sagte ich.
»Na schön«, sagte sie. »Von mir aus. Mir doch egal, ob ihr zwei Loser kommt.«
Aber mich kümmerte nicht, was sie dachte, als sie in ihrem Minirock mit auf dem Beton klappernden Glitzerflipflops abrauschte.
Die Hitze an manchen Tagen wurde gefährlich. Es war erst April, aber man riet uns dringend, nicht ins Freie zu gehen, wenn die Dauer des Sonnenlichts fünfundzwanzig Stunden überschritt. In diesen Zeiten entstanden oft Rekordtemperaturen.
Aber genauso wild konnte das Wetter auch in die andere Richtung schwanken. Eines dunklen Morgens erwartete mich beim Aufwachen ein unfassbarer Anblick.
»Ach du Scheiße«, sagte meine Mutter in ihrem grünen Bademantel.
Ich sah aus dem Fenster: Schnee.
In Kalifornien, auf Meereshöhe, im Frühling.
Über zwölf Zentimeter waren schon gefallen, während wir schliefen, und es schneite weiter. Die Temperaturen waren immer tiefer gefallen, als jede Dunkelheit sich länger ausdehnte. Nun schimmerte unser Viertel bläulich im Mondlicht: überzuckerte Autos, weiß bereifte Zäune, verschneite Terrakottadächer. Die Bürgersteige sahen aus wie neu gepflastert. Die Kunstrasen waren über Nacht gänzlich von einer einzigen glatten, sauberen, cremeweißen Decke verschluckt worden. Unsere Straße funkelte.
Seth tauchte in einem roten Skianorak, den ich noch nie gesehen hatte, und einer ausgefransten Strickmütze, die schief auf seinem Kopf saß, auf unserer Veranda auf. Schneeflocken schmolzen auf seinen Schultern.
»Wir müssen Schlittenfahren gehen«, sagte er. Er hielt das blaue Bodyboard hoch, das er von sich zu Hause mitgebracht hatte.
Ich schnappte mir eine Jacke und folgte ihm hinaus auf die weiße Straße.
»Warte«, rief meine Mutter aus der Tür. »Ich weiß nicht, ob ich will, dass du da rausgehst.«
»Helen«, sagte mein Vater. »Es ist doch nur Schnee.«
Wir waren Strandkids, Sonnenscheinkids. Wir kannten die Beschaffenheit von Schnee nicht. Ich hatte ihn noch nie fallen sehen, hatte nicht gewusst, wie weich er sich zuerst anfühlte, wie leicht er unter den Füßen zerfiel, hatte dieses besondere Knirschen nie gehört. Bis dahin hatte ich keine Ahnung gehabt, dass Schnee alles dämpfte, irgendwie den gesamten Lärm der Welt zum Verstummen brachte.
In unseren Garagen gab es keine Schneeschaufeln oder Schneefräsen. Unsere Autos hatten keine Winterreifen. Der nächste Schneepflug parkte hundertfünfzig Kilometer entfernt in den Bergen. Und deshalb bestand kein Zweifel: Wir waren eingeschneit. Die Schule fiel aus, und mein Vater hatte den Tag frei. Es gab nichts zu tun, als sich auf den Boden zu werfen und Schneeengel zu machen oder Schneemänner zu bauen oder auf allem, was wir gerade finden konnten, den nächsten Hügel hinabzurodeln. Sämtliche Kinder aus der Nachbarschaft waren auf der Straße. Wir fingen Flocken mit der Zunge und mit den Wimpern auf, ließen sie in unserer Handfläche schmelzen. Wir beobachteten Tony, unseren südkalifornischen Kater, bei seiner ersten Begegnung mit Schnee – er fand ihn furchtbar, schüttelte die Pfote und zog sich ins Haus zurück.
Mein Vater lachte, als er das sah, es war vielleicht sein erstes Lachen, seit mein Großvater verschwunden war. All seine Wochenenden hatte er damit verbracht, auf der Suche nach seinem Vater in etliche Echtzeitkolonien zu fahren. Ein Besuch in einer Kolonie führte häufig zu einer anderen weiter draußen in der Wüste oder auch irgendwo hoch in den Bergen. Es gab dutzende von diesen Orten über den Staat verteilt. Überall verteilte mein Vater Vermissten-Flugblätter. Sechs Wochen waren ohne eine Nachricht verstrichen. Es war schwer
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