Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
Vom Netzwerk:
vorstellbar, dass mein Großvater so lange nicht schreiben würde – allmählich hatte ich Angst, ihm wäre etwas zugestoßen, aber diese Angst behielt ich für mich.
    »Ich hoffe, er sieht das hier«, sagte mein Vater und bückte sich, um den Schnee anzufassen. »Wo auch immer er ist.«
    Er nahm eine Handvoll und warf einen Schneeball in meine Richtung. Später half er uns, im Garten einen Schneemann zu bauen.
    Der Schnee würde vollständig wegschmelzen, sobald die Sonne nach der langen Nacht zurückkehrte. Aber zunächst einmal, an diesem Tag, wurde unserer Welt die Schönheit vorübergehend wiedergeschenkt.
    Meine Mutter nahm ich an jenem Morgen nur schemenhaft wahr, eine Sorgengestalt am Rande.
    »Das ist nicht richtig«, sagte sie immer wieder, ihre Stimme war über dem Kreischen der spielenden Kinder kaum zu hören. Sie weigerte sich, auch nur in die Nähe des Schnees zu kommen. »Wir sind hier in Kalifornien«, sagte sie. »Das ist nicht richtig.«

30
    E ines Tages hörten wir ein seltsames Geräusch am Himmel: ein Knistern, ein Reißen, wie Zellophan, das im Wind raschelt.
    Es kam aus allen Richtungen. Das Geräusch dauerte drei Minuten. Es wurde gehört – manche sagen gefühlt – von Mexiko bis Seattle. Nichts wurde gesehen. Was auch immer an jenem Tag in der Atmosphäre herumwirbelte, war für das menschliche Auge unsichtbar.
    Während der folgenden Dunkelheit entdeckte man einen breiten Strom von Grün, der am Horizont waberte. Tausende von Kameras zeichneten seine flammenartigen Bewegungen auf. Zur selben Zeit versagten Navigationssysteme. Bestimmte Satelliten fielen aus. Und meine Mutter erlitt einen ihrer bis dahin schlimmsten Anfälle, rutschte auf den Küchenboden, weil sie das Gleichgewicht nicht halten konnte, als befände sie sich auf dem Deck eines stampfenden Schiffes. Sie konnte kurzzeitig nicht stehen.
    Als die Sonne das nächste Mal aufging, war die Meldung offiziell: Etwas geschah mit dem Magnetfeld der Erde.
    Zur Zeit der Verlangsamung war nur wenig über den Dynamoeffekt bekannt. Er war eher Theorie als Tatsache, lediglich eine elegante mathematische Annahme, die ähnlich der Stringtheorie an der Wegkreuzung von Wissenschaft und Glauben schwebte. Ungeprüft und unprüfbar war die Dynamotheorie, eine versonnene Mutmaßung, dass das Erdmagnetfeld irgendwie von der stetigen Drehung des Planeten abhängen könnte.
    Millionen von Jahren hatte das Magnetfeld die Erde vor der Sonnenstrahlung abgeschirmt, aber in den acht Monaten nach dem Beginn der Verlangsamung fing es an zu verkümmern. Eine riesige Lücke, die Nordamerikanische Anomalie, tat sich über der westlichen Hälfte des Kontinents auf.
    Das Wort Strahlung hörte ich nicht zum ersten Mal, aber hätte man mich an irgendeinem Tag vor jenem aufgefordert, das Wort zu definieren, hätte ich es in einen historischen Zusammenhang gebracht, mit der Atombombe und den Kriegen eines vergangenen Jahrhunderts.
    Jetzt, erklärte man uns, drang Strahlung in unsere obere Atmosphäre ein.
    Luftverkehr und Satelliten wurden in der gesamten Region umgeleitet. Die Regierung behauptete hartnäckig, die Bedrohung für Menschen sei minimal, doch man riet uns, jeglichen direkten Kontakt mit dem Sonnenlicht zu vermeiden – nur für alle Fälle. Man würde etwas Zeit brauchen, das tatsächliche Risiko zu ermitteln.
    Und so wurden, als die Tage auf sechzig Stunden anwuchsen, Freizeitparks und Freilufteinkaufszentren während der hellen Stunden geschlossen. Einige Sportereignisse wurden abgesagt oder in überdachte Stadien verlegt. Die industriellen Gewächshäuser wurden mit Planen abgedeckt – Strahlung konnte die Zellen der Pflanzen genauso leicht zerstören wie unsere. Ab da lebten Getreide und Gemüse ausschließlich von künstlichem Licht.
    Die ganze Zeit über hofften wir natürlich, diese Maßnahmen wären vorübergehend. Sämtliche Amtsträger wiederholten dieselbe glatte Formulierung: aus größtmöglicher Vorsicht , sagten sie. Erst später sollte ich diese Veränderung als nicht nur ein weiteres seltsames Phänomen begreifen, sondern als etwas anderes, eine letzte Wende.
    Meine Mutter nahm die Warnungen bezüglich der Strahlung ernst, genau wie mein Vater. Die Schulen ebenfalls. Ab sofort wurde unsere Bewegungsfreiheit bei Tageslicht auf die Strecke des Schulbusses beschränkt, der wiederum mit Verdunkelungsjalousien ausgestattet worden war. Unsere Vorhänge blieben ununterbrochen geschlossen. Besorgungen verschoben wir in die Dunkelheit. Jedes

Weitere Kostenlose Bücher