Ein Jahr voller Wunder
der Ferne hörten wir Autos auf der Schnellstraße vorbeizischen.
»Ich weiß auch nicht«, sagte er. »An der Bushaltestelle warst du letzte Woche irgendwie komisch.«
Mein Magen zog sich zusammen. Ich umklammerte die Metalllehne meines Stuhls.
»Ich war gar nicht komisch«, sagte ich. »Du warst komisch.«
Sorgfältig achtete er darauf, nicht in meine Richtung zu blicken. Ich war mir seiner Nase im Profil bewusst, der linken Kante seines Kiefers, eines Ohrs, eines Auges, während er geradeaus auf die Berge starrte, die sich östlich von uns erhoben. Er sah besser aus denn je.
Nun räusperte er sich und ergänzte: »Du hast den Eindruck gemacht, als wolltest du nicht, dass jemand mit dir spricht.«
»Das stimmt nicht«, sagte ich. »Das stimmt überhaupt nicht.«
Es heißt, Menschen könnten einander auf hundert subtile Arten deuten, wir nähmen in der unmerklichsten Regung eines Körpers, im flüchtigsten Ausdruck eines Gesichts Botschaften wahr, aber irgendwie hatte ich an jenem Tag mit verblüffender Effizienz das genaue Gegenteil dessen kommuniziert, was ich mir am meisten auf der Welt wünschte.
»Und du warst so fein gemacht und so«, fuhr er fort. »Warum hast du dich so angezogen?«
Ich bekam kaum Luft, spürte aber ein winziges Prickeln. Das war ein Beweis, dass er über mich nachgedacht hatte.
»Du warst selber komisch«, sagte ich. »Du hast nicht mal Hallo gesagt.«
Er drehte den Kopf und sah mich zum ersten Mal seit mehreren Minuten an. Er hatte dunkelbraune Augen, dichte Wimpern, keine Sommersprossen.
»Du hast ja auch nichts gesagt«, gab er zurück.
Und dann öffnete sich sein Mund zu einem breiten und unvermittelten Lächeln: Ich bemerkte, dass seine Schneidezähne etwas schief standen.
»Ich hatte an dem Tag Geburtstag«, sagte ich.
»Ach so. Dann alles Gute zum Geburtstag.«
Wer wusste, was als Nächstes passieren würde, aber jetzt waren wir erst mal zusammen, tranken unsere Cola und betrachteten den Himmel. Ich war froh.
»Moment mal.« Seth setzte sich in seinem Liegestuhl auf. »Wie spät ist es?«
Seth fiel es zuerst auf: Die Orion war überfällig.
»Da stimmt was nicht«, sagte er.
Er kniff die dunklen Augen zusammen und suchte die Luft über uns ab.
Wir warteten noch weitere lange Minuten, aber der Himmel blieb vollkommen blau und unheilvoll leer, weder ein Raumschiff noch Kondensstreifen in Sicht.
Es war, als wüssten wir schon in dem Moment, was passiert war.
Aus Seths Fernseher erfuhren wir später die Einzelheiten des Schicksals der Orion. Dreihundert Kilometer vor der kalifornischen Küste brach sie auseinander, die Ursache war noch unbekannt. Alle sechs Astronauten an Bord kamen ums Leben.
Steif saßen Seth und ich an den beiden äußeren Enden der Couch und betrachteten den Nachrichtenstrom, der in sein Wohnzimmer floss.
Schon zeigten die Sender Fotos der Astronauten vom Tag ihrer Abreise von der Erde zehn Monate vorher, die Gesichter frisch und fröhlich, die weißen Anzüge so adrett und strahlend im Sonnenschein, die riesigen Helme unter ihren Armen funkelnd, als sie winkten – ganz anders, als sie in neueren Videoübertragungen aussahen, nachdem sie im All so dünn und schwach geworden waren, dass es beinahe natürlich wirkte, wenn sie schwerelos herumschwebten, während sie via Satellitenverbindung mit Houston sprachen.
Eine Zeitlang sagten wir nichts. Ich rutschte auf meinem Platz herum. Das Sofa quietschte unter mir. Im Leder waren Löcher.
Seth sprach zuerst.
»Willst du lieber bei einer Explosion sterben?«, fragte er. »Oder an einer Krankheit?«
Ich ließ die Frage im Raum stehen. Seine Mutter war hier gestorben. Ich wollte nicht die falschen Worte sagen.
»Das Gute an einer Explosion ist«, sagte er, »sie dauert nur eine Sekunde.«
29
D anach waren Seth und ich oft zusammen.
Unsere Bindung war eine plötzliche, wie sie nur für junge oder in Gefahr schwebende Menschen möglich ist. Die Zeit verging in jenem Frühling anders für uns: eine Abfolge langer Nachmittage war so gut wie ein Jahr.
Wir verbrachten die Mittagspause nicht länger in der Bücherei, sondern legten uns unter zwei abgestorbene Kiefern am Rand des Schulhofs, wo wir die über den Himmel ziehenden Wolken betrachteten. Seth hielt mir jeden Morgen und jeden Nachmittag einen Platz im Bus frei.
Anfangs war mir bewusst, dass die anderen Kinder uns beobachteten. Ich konnte spüren, wie sie uns die ganze Zeit anstarrten. Ich ahnte ihr Getuschel. Aber schon bald bemerkte ich
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