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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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schlafen. Feine Sonnenlichtstreifen liefen über den Teppich. Mein Wecker tickte auf der Kommode, und mir wurde seine Schnelligkeit neu bewusst: das Ticken, Ticken, Ticken. Minuten sausten. Stunden flogen. Ich schlief nur wenig. Ich träumte verstörende Träume. Tage, Monate, Jahre, ganze Leben – alles raste auf sein Ende zu. Zur eingestellten Uhrzeit lärmte mein Wecker: Ich musste aufstehen und zur Schule gehen. Mit pochendem Herzen, atemlos und unter meiner Decke verschwitzt, wachte ich auf.
    Später an diesem Morgen rief die Polizei an und teilte uns mit, man habe einen älteren Mann gefunden, der orientierungslos durch einen Supermarkt in der Nähe wanderte. Mein Vater fuhr auf die Wache, um zu bestätigen, was wir bereits wussten: Er war es nicht.

28
    D rei Tage vergingen. Es kam keine Nachricht von meinem Großvater.
    Und es fühlte sich an, als wäre auch Seth Moreno aus meinem Leben verschwunden. Jeden Morgen kam er noch später zur Bushaltestelle. In der Schule sprach er nicht mit mir. Seit dem Tag mit den Walen hatten wir kein einziges Wort miteinander gewechselt. Ich verbrachte viel Zeit im Unterricht damit, zu überlegen, was ich falsch gemacht hatte.
    Unterdessen wucherten unsere Tage weiter, dehnten sich die Nächte aus. Man sprach von Wendepunkten, Rückkopplungen, unumkehrbaren Prozessen.
    Später in derselben Woche verkündete die NASA, die Astronauten würden zurückkehren – trotz des Risikos. Niemand wusste genau, wie die Verlangsamung sich auf den Wiedereintritt auswirken würde, aber oben in der Raumstation waren ihnen die Lebensmittel ausgegangen. Tausend Berechnungen wurden angestellt und notgedrungen einige Mutmaßungen. Man hatte bekannt gegeben, die Orion werde um drei Minuten nach vier auf ihrem Weg zur Edwards Air Force Base über den südlichen Himmel Kaliforniens rasen.
    Ich nahm mir vor, sie durch mein Teleskop zu beobachten, allein.
    Es war hell und heiß, als ich an jenem Nachmittag aus dem Bus stieg. Die Sonne schien seit über zwanzig Stunden. Der Asphalt glitzerte. Eine warme Brise wehte Laub und Abfall durch die Siedlung.
    Auf meinem Heimweg dachte ich an die Astronauten: Sie waren acht Monate fort gewesen, die letzten Menschen, die noch keinen Tag erlebt hatten, der länger als vierundzwanzig Stunden dauerte.
    Als ich schräg über das leere Grundstück lief, entdeckte ich zu meiner Überraschung Seth auf seinem Skateboard. Er war sofort von der Bushaltestelle verschwunden, hatte aber hier angehalten und benutzte den Bordstein, um neben einem Hydranten Sprünge zu üben.
    Ich widerstand dem Drang, in seine Richtung zu sehen. Wieder und wieder schlug sein Brett klappernd auf den Bordstein. Ich ging weiter.
    Doch als ich den Weg zu meiner Straße einschlug, verstummte das Geräusch. An seiner Stelle hörte ich etwas absolut Unglaubliches: die drei Silben meines Namens in den Wind gerufen.
    »Ja?«, sagte ich.
    Ein Kloß bildete sich plötzlich in meiner Kehle.
    Die anderen Kinder waren mittlerweile weg. Nur noch wir beide waren da und die Erde des unbepflanzten Grundstücks, die über die Straße wirbelte.
    »Schaust du dir die Rakete an?«, fragte er. Mit einer Hand schirmte er seine Augen vor der Sonne ab. Unsere Schatten vermischten sich auf dem Bürgersteig.
    »Kann sein.« Ich war misstrauisch und scheu.
    »Ich sehe es mir von unserem Dach aus an«, sagte er. Ein Windstoß wehte. Sekunden vergingen. »Komm mit.«
    Vielleicht hätte ich wütend über sein vorheriges Verhalten sein sollen, aber ich erinnere mich nur noch an das Winken seiner Hand, als er mir bedeutete, ihm zu folgen, und dass er genau die Worte aussprach, die meine Ohren am liebsten hören wollten.
    Aus der unaufgeräumten Garage schleiften wir zwei rostige Liegestühle ins Haus und dann die Dachbodenleiter hinauf und nach draußen. Wir stellten sie nebeneinander auf einer flachen Stelle auf, wo schwarze Teerpappe und Kabel und Berge von uraltem Vogelmist lagen. Seth holte uns zwei Colas und ein paar Salzstangen, und dann lehnten wir uns zurück und warteten darauf, dass die Orion über unseren Kopf hinwegraste. Der Himmel war klar. Die Luft war warm. Die Stühle rochen nach Sonnenmilch und Salz. Ich spürte Seth neben mir sitzen. Ich hörte ihn in meiner Nähe atmen. Lange sprachen wir nicht.
    Seth brach das Schweigen.
    »Warum warst du letztens so?«, fragte er.
    Ich empfand einen Anflug von Panik.
    »Wie denn?«
    Er sah mich nicht an. Er nippte an seiner Cola und stellte sie auf der Teerpappe ab. In

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