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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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abrupt aus, das Licht auch, ich ergriff in der Schwärze Seths Hand. Es war vier Uhr nachmittags. Eine Stille überflutete das Haus, als wäre Geräuschlosigkeit eine Bedingung der Dunkelheit. Sechzehn Stunden, vielleicht auch mehr, würde es dauern, bis die Sonne wieder aufginge. Zusammen tasteten wir uns zur Haustür, stießen sie auf: Dort draußen war es ebenfalls dunkel, ein prähistorisches Dunkel, das lautlose Funkeln von Sternen.
    Meine Mutter rief mich von der Arbeit aus auf dem Handy an. »Bleibt, wo ihr seid«, sagte sie. »Bleibt einfach, wo ihr seid. Schließt die Türen ab und lasst keinen rein.« Wir durchwühlten das Haus nach einer Taschenlampe. In unserer Blindheit stießen wir zusammen und liefen gegen Wände. Wir machten eine Lampe kaputt und lachten lange. Seth zündete mit einem der Feuerzeuge seines Vaters Kerzen an. Die trugen wir herum wie Fackeln, im Licht der Flammen erschienen unsere Gesichter schattenhaft. Wir fragten uns, ob es vielleicht ewig dauern würde, das Zeitalter nach der Elektrizität.
    Schließlich setzten wir uns auf den Holzfußboden im Wohnzimmer, unsere Kerzen flackerten um uns herum. Seth holte ein Kartenspiel hervor.
    »Pass auf«, sagte er.
    Er baute einen Turm, immer drei Karten auf einmal.
    Das Haus war so still in der Dunkelheit, dass ich die Karten einander streifen hören konnte. Seth sah im Kerzenlicht älter aus. Ich beobachtete ihn lange.
    »Versuch mal.« Er streckte mir zwei Karten hin. Seine Augen glänzten.
    Aber meine Hände wurden zittrig. Ich hatte Angst, ich würde das ganze Ding umwerfen.
    »Ist schon okay«, sagte er. »Die zweite Ebene ist viel schwerer als die erste.«
    Seit Wochen wollte ich Seth von meinem Vater und Sylvia erzählen – und in diesem schwachen Licht schien es mir endlich möglich, die Worte laut auszusprechen.
    Ich holte Luft und schluckte.
    »Ich erzähle dir ein Geheimnis«, sagte ich.
    Seth hielt inne und sah mich an.
    »Ich habe meinen Vater in Sylvias Haus gesehen.«
    Deutlich nahm ich die Stille wahr, den nicht brummenden Kühlschrank, den nicht leuchtenden Receiver, das ausbleibende Ticken der Digitaluhren.
    »Was meinst du damit?«, fragte er.
    »Ich habe sie gesehen, du weißt schon.« Ich zögerte. »Zusammen.«
    Jetzt, da ich es ausgesprochen hatte, erschien es wahrer als je zuvor.
    Zuerst sagte Seth nichts. Ich wartete. Dann nickte er nur, als hätte er gelernt, solche Dinge vom Leben zu erwarten. Er sprach nie über seine Mutter – und ich fragte ihn nie mehr nach ihr –, aber manchmal spürte ich ihre Abwesenheit in seinen Reaktionen auf gewisse Ereignisse, als wüsste er damals schon, dass unter allem eine universelle Traurigkeit existierte.
    »Weiß deine Mutter das?«, fragte er schließlich.
    »Ich glaube nicht. Ich bin mir nicht sicher.«
    Er stellte zwei neue Karten auf den Turm. Das ganze Gebilde schwankte daraufhin leicht, und Seth hielt die Hände mehrere Sekunden in der Luft, als geböte er über eine unsichtbare Kraft, die die Karten aufrecht halten konnte. Offenbar funktionierte es: Der Turm blieb stehen.
    »Das ist deiner Mutter gegenüber nicht fair«, sagte er. »Ich hasse Sachen, die unfair sind.«
    Ich nickte. »Ich auch.«
    Mehr sagten wir nicht, aber das Geheimnis schwirrte zwischen uns. Es tat gut, es erzählt zu haben. Es tat gut, von diesem Jungen gekannt zu werden. Später, nachdem der Kartenturm eingestürzt war und die Kerzen heruntergebrannt, zogen wir unsere Badesachen an und stiegen in das pechschwarze Wasser von Seths Whirlpool. Wir konnten nichts außer den Sternen sehen. Unsere Beine streiften sich unter der Oberfläche. Seth beugte sich zu mir und küsste mich. Ich küsste ihn zurück. Ich war glücklicher als seit langer Zeit.
    Zwei Stunden später war der Strom wieder da.
    Die Behörden machten die Pflanzenleuchten und die Gewächshäuser für den Ausfall verantwortlich – sie überlasteten das Leitungsnetz. Damals begann die Energierationierung.
    Kein Licht nach zweiundzwanzig Uhr. Keine Klimaanlagen, wenn die Temperatur unter einunddreißig Grad lag. Aber die industriellen Gewächshäuser verschlangen Unmengen von Strom. Die gesamte Lebensmittelversorgung wurde von Natriumdampflampen aufrechterhalten. Alle Bauernhöfe des Landes waren inzwischen auf künstliche Sonnenphasen angewiesen.
    Eines Tages mitten in diesem Frühling tauchte in jedem unserer Briefkästen ein dicker rosa Umschlag auf, der in Glitzerschrift Michaelas Party anlässlich ihres zwölften Geburtstags im

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