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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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Mal, wenn der Himmel sich aufhellte, hasteten wir nach Hause und machten unsere Türen zum Schutz vor der Strahlung zu.
    Wir schluckten Vitamin-D-Tabletten, um den Mangel an Sonnenlicht auszugleichen. Wir zogen den Kopf ein und warteten auf die Entwarnung.
    Jene Tageslichttage waren trostlos. Jene Tageslichttage schleppten sich dahin. Meine Mutter ließ mich nur für die Schule aus dem Haus, und daher sah ich Seth an diesen hellen Tagen viel seltener. Ich verbrachte meine Zeit allein in meinem Zimmer und sehnte mich nach der Freiheit der Dunkelheit.
    Der Sonnenuntergang bekam eine neue Bedeutung für mich, egal, wann er eintraf. Wenn die Sonne hinter den Horizont rutschte, klopfte es ein paar Minuten später bei uns an der Tür: Und da stand Seth im Dämmerlicht auf unserer Veranda.
    »Hallo«, sagte er dann.
    »Hallo«, gab ich zurück und winkte ihn ins Haus.
    An dunklen Tagen verbrachten wir fast all unsere Zeit zusammen.
    Ich hatte Sylvia seit Wochen nicht gesehen. Ihre Vorhänge waren in diesen Tagen immer vorgezogen. Mein Teleskop war nutzlos. Ich könnte nicht sagen, was in ihrem Haus vor sich ging. Ihre Rosen waren, wie alle anderen, tot, aber sie machte sich nicht die Mühe, die Überreste zu beseitigen. Stattdessen standen die Stöcke wie Skelette um ihre Einfahrt. Wegen des Grases hatte sie ebenfalls nichts unternommen, wie es mittlerweile alle übrigen Nachbarn getan hatten. Ihr Haus war nicht von Kunstrasen umgeben. Unentwegt wehte feine Erde über den Gartenweg. Sie schien nie nach draußen zu kommen. Das Graffiti war eilig mit einem Klecks brauner Farbe überdeckt worden, der sich stark von der weißen Garage abhob. Das Loch klaffte immer noch in ihrem Dach, die weiße Plastikplane verfärbte sich an der Luft langsam braun.
    Abergläubische Gerüchte über sie rumorten unter den kleineren Kindern, die jetzt die Straßenseite wechselten, um nicht an Sylvias Haus vorbeigehen zu müssen – oder einander herausforderten, bei ihr zu klingeln, wozu aber keines den Mut hatte. Einmal beobachtete ich zwei Zeugen Jehovas, die Sylvias Haus vom Bürgersteig aus inspizierten: Sie zogen weiter, ohne zu klopfen, behielten ihre Botschaft für sich. Falls mein Vater je wieder zu ihr gegangen war, hatte ich ihn nicht gesehen. Soweit ich wusste, betrat niemand Sylvias Haus. Und dem Anschein nach verließ es auch niemand.
    »Vielleicht geht sie nur in weißen Nächten raus«, sagte Seth. »Wenn alle anderen schlafen.«
    Wir lagen jeder auf einem eigenen Sofa in seinem Wohnzimmer, aßen Eis aus Metallschüsseln und genossen die letzten Stunden Dunkelheit. Durch die Fenster beobachteten wir das Flackern des Himmels – die Nordlichter waren fast bis zum Äquator hinabgestoßen, eine weitere Folge der Veränderungen im Erdmagnetfeld. Es gab einen neuen Namen für diesen neuen Effekt: Aurora Media .
    »Vielleicht«, sagte ich.
    »Das würde ich an ihrer Stelle machen.«
    »Oder sie ist weggezogen.«
    Seth erwog diese Möglichkeit. Sein Eislöffel klapperte gegen einen Schneidezahn.
    »Ohne ihr Auto?«, fragte er.
    Wir hatten bemerkt, dass Sylvias Zeitungen sich nie besonders hoch stapelten, bevor sie von der Veranda verschwanden. Der Briefkasten quoll nie über.
    »Ich glaube, sie ist noch da drin«, sagte er.
    Die Lampe in Seths Wohnzimmer flackerte. Das geschah immer häufiger. Wir verbrauchten immer mehr Brennstoff.
    »Ich weiß, was wir tun sollten.« Seth setzte sich schnell auf und stellte seine leere Schüssel auf den Couchtisch. Ein Streifen brauner Bauch blitzte auf, als er sich bewegte. Mir gefiel, wie sein Hüftknochen über dem Gürtel herausstand. »Wir schleichen uns mitten in einer weißen Nacht raus und sehen nach, ob sie mal vor die Tür kommt.«
    Sobald er das sagte, wusste ich, dass wir es noch am gleichen Abend tun würden. Die Idee war unwiderstehlich. Sylvia war ein weiteres seltenes Exemplar, das wir beide beobachten konnten: die letzte Echtzeiterin unserer Gegend.
    Ich rief meine Mutter an und erzählte ihr, ich wolle bei Hanna übernachten. Das Lügen wurde einfacher.
    »Ach, gut«, sagte meine Mutter. Sie klang am Telefon schläfrig. »Ich wusste, ihr zwei würdet euch letzten Endes wieder vertragen.«
    An den Sekunden, die sich zwischen ihren Worten aufreihten, merkte ich, dass sie sich gerade von einem weiteren Schwindelanfall erholte. Sie hätte mir nie geglaubt, wenn es ihr gutgegangen wäre. Ich war seit Monaten nicht bei Hanna gewesen.
    »Aber Julia«, sagte sie. »Bleib bitte aus der

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