Ein kalter Hauch im Untergrund - Neal Carey 1
sich doch noch mit Carol Metzger treffen. Wenn er nur an ihr braunes Haar dachte, wie es auf ihre Schultern fiel, tat ihm der Magen weh.
Wenn ich ein Ohrring wäre, wo würde ich mich verstecken? dachte er. Das schien der einfachste Weg zu sein. Er sah unter dem Sofakissen von Grahams Sitzgruppe nach.
»Gute Idee«, sagte Graham.
Kein Ohrring auf dem Sofa. Kein Ohrring unter dem Sofa. Auch kein Staub unter dem Sofa, keine Münzen, Gummibänder, Papierfetzen oder Zahnstocher. Neal untersuchte den Spalt zwischen Sitzkissen und Rückenlehne in Grahams Lieblingssessel. Kein Ohrring.
»Die Giants haben morgen ein Spiel gegen die Colts«, sagte Graham. »Sie haben acht Punkte. Willst du hin?«
Neal machte sich nicht die Mühe zu antworten. Er kannte diesen Trick bereits. Graham wollte ihn ablenken, seine Konzentration stören.
Graham fuhr fort: »Acht Punkte. Das ist gut. Sie können verlieren und trotzdem noch gewinnen.«
»Wo ist der gottverdammte Ohrring?«
»Fick dich selbst«, sagte Graham freundlich.
Neal hatte einen Verdacht: »Ist der Ohrring, sagen wir mal, irgendwo an deinem Körper?«
»Das wäre, wie man so schön sagt, gemein.«
»Denn wenn er in deiner Unterhose steckte, müßtest du allein danach suchen.«
Graham wollte gerade etwas über diese Carol sagen, verbiß es sich dann aber. Liebe unter Teenagern war so eine Sache. »Aber wenn du meine Kommode durchsuchen solltest, wäre das kein Problem?«
Neal wühlte sich durch Grahams Wäscheberge. Das war nicht allzu schwierig. Die Socken waren zusammengerollt und nach Farben geordnet. Die Unterwäsche war gefaltet. Es gab eine kleine Plastikschachtel für Münzen aus der Hosentasche. Neal schöpfte Hoffnung, als er eine Schachtel mit Manschettenknöpfen und Krawattennadeln entdeckte. Aber: kein Ohrring. Auch nicht unter den gemangelten Hemden oder unter den Sweatern.
»Du hast gesagt, ich soll in der Kommode suchen!«
»Und?«
»Er ist nicht da!«
»So ein Pech.«
Als nächstes sah Neal im Schrank nach: Jackentaschen, Borde. In einem Anfall von Erleuchtung durchsuchte er den Beutel des Staubsaugers. Nichts. Als er den Staubsauger wieder zusammenbaute, kam Graham zu ihm herüber.
»Du machst das ganz falsch, Sohnemann.«
»Ach.«
»Wenn du etwas finden willst, darfst du nicht danach suchen.«
»Klar. Völlig logisch.«
Graham ignorierte diese Bemerkung. »Du darfst nicht nach dem Gegenstand suchen; du mußt den Raum durchsuchen. Guck nicht, wo das, was du suchst, sein könnte. Guck, was da ist. Kapiert?«
Neal schüttelte den Kopf.
»Okay«, sagte Graham. »Du siehst das Zimmer, ja? Das ist das, was ist. Irgendwo in dem Zimmer soll ein Ohrring sein. Das könnte sein. Was guckst du dir an, was ist oder was sein könnte?«
»Was ist.«
Graham freute sich. »Genau! Also, durchsuch das Zimmer!«
»Das tue ich doch!«
»Nein, du hast im Zimmer umhergesucht.«
Neal ließ sich in den Sessel fallen. »Tut mir leid, ich versteh kein Wort.«
Graham ging zum Kühlschrank und holte eine Cola und ein Bier. Er gab Neal die Cola. »Du liest doch gern, stimmt’s«
»Ja.«
Graham konzentrierte sich. »Und wenn du liest, hüpfst du dann auf der Seite umher? Liest du hier ein Wort und da ein Wort?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ergibt keinen Sinn.«
»Also, was tust du?«
»Na ja…. ich lese Absätze… und Sätze.«
»Genau! Und jetzt zerleg das Zimmer in Absätze. Lies das Zimmer!«
Das fand Neal spannend. Er hatte es noch nicht ganz kapiert, aber er war nahe dran. »Und wie zerlege ich das Zimmer in Absätze?«
»Teil es in Würfel.«
»Würfel?«
»Ja. Quadrate sind zweidimensional, Zimmer sind dreidimensional. Dann durchsuchst du einen Würfel nach dem anderen. Den ganzen Würfel. Wenn das, was du suchst, da ist, findest du’s. Wenn nicht, durchsuchst du den nächsten Würfel.«
»Klingt gut.«
»Ja. Und jetzt mach dich an den Ohrring, während ich mein Bier austrinke und mich mit Investment-Möglichkeiten beschäftige«, sagte Graham. Er setzte sich wieder auf den Küchenstuhl.
Neal fand den Ohrring im fünften Würfel, neben der Heizung.
Er hielt ihn triumphierend hoch.
»Sind wir jetzt fertig?« fragte Neal. Bilder von Carol Metzger tanzten vor seinen Augen.
»Für heute.«
Neal hastete zur Tür.
»Neal!«
Neal hielt wieder an. Es war zu schön gewesen, um wahr zu sein. Graham würde ihn losschicken, um irgendwas zu suchen. Ein Kaugummipapier mit seinen Initialen zum Beispiel, das er am Times Square versteckt
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