Ein kalter Strom
verfolgte, niemals auch nur einen zweiten Blick gönnen würden. Obwohl die Einzelheiten der Verbrechen ganz verschieden sein konnten, stellten die Opfer selbst gewöhnlich ebenso sehr ein Merkmal dar wie die Handlungen, die der Täter vornahm und die das Verbrechen zu der einzigartigen, für ihn typischen Tat machten.
In diesem Fall war es beim ersten Blick auf die Polizeiberichte klar gewesen, dass das in Bezug auf Geronimo nicht stimmte. Ausnahmsweise war hier nur das Ritual konstant geblieben. Auf einen eventuellen Mangel an Befriedigung durch frühere Taten folgte keine Steigerung oder Veränderung. Die Opfer waren physisch ganz unterschiedlich, von de Groots sportlichem, muskulösem Körper bis zu Margarethes adretter Schlankheit und Neumanns gemütlicher Rundlichkeit. Dies hieß, dass bei der Auswahl ein anderes Element im Spiel sein musste, und Tony war völlig überzeugt gewesen, dass es in dem gemeinsamen beruflichen Interesse liegen musste, da dies das einzige Bindeglied zwischen den Toten war. Und das zeigte nur, wie töricht es war, sich Theorien zu bilden, bevor man die Tatsachen kannte, erinnerte er sich selbst, als er seine Tasse ins Wohnzimmer trug.
»Was regt dich an den Psychologen so auf, Geronimo?«, fragte er, laut vor sich hin sprechend. »Hasst du sie? Hat ein Psychologe Entscheidungen getroffen, die sich nachteilig auf dein Leben ausgewirkt haben? Oder glaubst du, man muss sie von ihrem Elend erlösen? Ist es eine persönliche Sache, oder siehst du dich als Helfer der Menschheit? Tust du ihnen oder der Welt einen Gefallen?« Er blätterte noch einmal die Informationen durch, die er im Netz gefunden hatte. »Wenn es um etwas geht, das jemand dir angetan hat, warum holst du dir dann die Wissenschaftler? Wenn du durch einen Schulpsychologen oder durch einen Gutachter bei Gericht vermurkst worden bist, warum gehst du dann nicht direkt gegen die praktizierenden Psychologen vor? Was machen diese Akademiker anders als die Kliniker?«
Wenn irgendjemand diese Frage beantworten konnte, dann wäre er selbst es. Er hatte schließlich auf beiden Seiten gearbeitet, hatte als Kliniker angefangen und war erst vor relativ kurzer Zeit an die Universität gegangen. Was war dieser Tage an seinem Arbeitsleben so anders, außer dem einen offensichtlichen Unterschied, dass er keine Patienten mehr hatte? War es das? »Rächst du dich an den Wissenschaftlern, weil sie ihre Ausbildung nicht richtig einsetzen, Geronimo?«, fragte er das unbestimmte Wesen in seinem Kopf, das keine rechte Form annehmen wollte.
»Nein, ich glaube nicht«, fuhr er fort. »Das ist zu lächerlich. Niemand bringt Menschen um, weil sie
nicht
die Köpfe der Leute verwirren.« Er rieb sich mit den Knöcheln die müden Augen und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Was taten Universitätsdozenten? Sie hielten Vorlesungen. Sie berieten Examenskandidaten und Doktoranden. Sie forschten.
»Forschung«, sagte er leise und richtete sich kerzengerade auf. Hastig überflog er noch einmal die Artikel und Aufsätze der drei Opfer. Diesmal sah er es. »Experimente«, rief Tony zufrieden aus. Das Einzige, was alle drei Opfer miteinander verband und was sich im weitesten Sinn als Pfuscherei am menschlichen Gemüt bezeichnen ließ, waren Experimente mit lebenden menschlichen Versuchsobjekten.
»Du glaubst, dass du aufgrund psychologischer Experimente gelitten hast«, sagte er jetzt zuversichtlich. »Etwas ist in deinem Leben anders gelaufen als im Leben anderer Menschen, und du gibst den Psychologen die Schuld daran. Du siehst sie als Forscher am lebenden Objekt, als Vivisektoren der Seele an. Das ist es, Geronimo, nicht wahr?« Instinktiv war ihm klar, dass er auf das verborgene Motiv dieser Mordserie gestoßen war.
Jetzt war er bereit, das Entwerfen eines Profils ins Auge zu fassen. Aber es war spät, und er wusste, dass er es besser auf den Morgen verschieben sollte. Zögernd schaltete er den Computer ab und zog den Reißverschluss seiner Reisetasche auf. Er bezweifelte, dass er ruhig schlafen würde, aber wenigstens konnte er so tun. Und morgen würde er nicht nur die Möglichkeit haben, das zu tun, worin er Meister war, sondern er würde auch Carol wiedersehen. Der Gedanke ließ ihn lächeln. Diesmal fingen die positiven Seiten ihrer Beziehung an, im Vergleich zu den bitteren Erinnerungen an die Vergangenheit zu überwiegen. Er mochte sich vielleicht täuschen, aber wenigstens wollte er diese Theorie austesten.
Kapitel 22
D er zweite Akt schien
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