Ein kalter Strom
Akt an, dabei können Sie über das nachdenken, was ich gesagt habe, ja?«
Er sah sie an, als könne er nicht glauben, was sie gesagt hatte. »Wer hat Sie hergeschickt?«, fragte er.
Carol runzelte die Stirn. »Niemand hat mich geschickt. Ich arbeite nur für mich selbst. Wenn wir ein Geschäft abschließen, werde ich auch nicht für Sie arbeiten. Wir werden zusammenarbeiten. Das sollte Ihnen von Anfang an klar sein.«
Auf seiner Stirn glänzte ein dünner Schweißfilm. »Vielleicht mögen Sie zum zweiten Akt bleiben?«, sagte er.
Carol klopfte leicht auf den Stuhl neben sich und lächelte keck. »Ich dachte schon, Sie würden sich nie zu dieser Frage durchringen.«
Petra schien das Klischee deutscher Tüchtigkeit zu verkörpern, dachte Tony, als er die ordentlich mit Etiketten versehenen Schachteln auf dem Boden des Wohnzimmers sah. Die drei Fälle waren in chronologischer Reihenfolge geordnet, obwohl die Menge des Materials ganz unterschiedlich war. In der dritten Schachtel war fast nichts.
Bevor er an das Profil des Mörders denken konnte, musste er die Opfer analysieren. Sie mochten scheinbar zufällig ausgewählt sein, aber hinter ihrem Tod steckte Sinn und Zweck. Der Außenwelt, die von hysterischen Schlagzeilen angestachelt wurde, kamen Leute, die es auf irgendwelche Fremden abgesehen hatten, einfach nur wie durchgedrehte Verrückte vor. Aber Tony wusste, dass das nicht stimmte. Serienmörder, die systematisch vorgingen, bedienten sich ihrer eigenen Logik, es waren Männer mit einer Mission, die nach einem nur für sie hörbaren Trommelschlag marschierten. Es war Tonys Aufgabe, sich in das Leben der Opfer hineinzudenken in der Hoffnung, dass er dann den schwachen Widerhall dieses Trommelschlags hören würde. Nur wenn er den geheimen Rhythmus im Vorgehen des Mörders erkannte, konnte er anfangen zu verstehen, warum diese Taten für den Mörder eine Bedeutung hatten. Wenn er sich ganz in den Kopf des Täters hineinversetzen und die Welt so umformen konnte, dass sie für den Mörder Sinn machte, erst dann konnte Tony hoffen, genug Schlüsselerlebnisse im Leben des Mörders zu erfassen und zu ermöglichen, dass man ihn zur Strecke brachte.
Gleich am Anfang gab er dem Mörder immer einen Spitznamen, damit er zu einer konkreten Person wurde. Es war ein Schritt auf dem langen Weg, ihm ein menschliches Gesicht zu geben, das seine Psyche mit ihren eigenen besonderen Regeln verbarg. »Du bringst Leute um, die davon besessen sind, das Funktionieren der menschlichen Psyche zu ergründen«, sagte Tony leise. »Es geht dabei um Spiele mit der Seele. Du ertränkst sie. Ist das wörtlich oder metaphorisch zu verstehen? Du skalpierst ihr Schamhaar, rührst aber die Geschlechtsorgane nicht an. Du glaubst, dass es hier nicht um Sex geht. Aber natürlich geht es trotzdem darum. Du streitest es einfach ab. Du glaubst, einen höheren Zweck zu verfolgen. Du führst einen Krieg und bist der Anführer in der Schlacht. Du bist Geronimo, nicht wahr?« Er erinnerte sich an eine merkwürdig passende Zeile aus Kyds
Spanischer Tragödie
. »Hieronimo ist wieder voller Zorn.«
»Geronimo, das ist es«, sagte Tony. Jetzt hatte er einen Namen und konnte einen Dialog mit ihm aufbauen, sich behutsam in die Rolle seines Zielobjekts versetzen, seine Schritte nachvollziehen und seine Gangart lernen. Er konnte sein Vorgehen darstellen und seine Träume erkunden. Geronimo konnte, wie so viele andere, keine Befriedigung in der Wirklichkeit finden. Aus welchem Grund auch immer hatte er nie gelernt, sich in die Gemeinschaft einzufügen. Er war nie zu einem wie auch immer gestörten, aber reifen Individuum geworden, sondern er war an dem Punkt stecken geblieben, wo die ganze Welt sich um ihn drehte und wo Träume die Wünsche erfüllen konnten, die die reale Welt ihm verwehrte.
Tony verstand diesen psychologischen Zustand nur allzu gut. Er hatte sich in seinem eigenen Leben als Erwachsener nie in der Welt zu Hause gefühlt. Er hatte mit einem Minderwertigkeitsgefühl gelebt, das es ihm unmöglich machte zu lieben, denn zur Liebe gehört, dass man überzeugt ist, verdientermaßen wiedergeliebt zu werden. Aber er war nie imstande gewesen, dies von sich selbst zu glauben, und hatte sich eine ganze Reihe von Masken gebastelt, hinter denen er sich verstecken und der Gemeinschaft anpassen konnte.
Als Mensch wahrgenommen werden!
In anderen Lebensumständen wäre er, wie er immer geglaubt hatte, vielleicht selbst ein Räuber geworden, der auf
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