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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Beutefang ging, statt ein Jäger. Dieses Bewusstsein lag allem, was er tat, zugrunde. Es machte ihn ganz besonders geeignet, die Psyche von geistig Gestörten und Kriminellen auseinander zu nehmen.
    Aber es machte ihn auch besonders ungeeignet für Beziehungen, die über das Oberflächliche hinausgingen. Meistens hatte er dies als Preis für seine recht nützliche und hilfreiche Begabung akzeptiert. Carol Jordan war der einzige Mensch, der ihn je fühlen ließ, dass dies nur eine weitere Lüge in seinem Leben war.
    Er wusste, dass er Carol nicht verdient hatte. Aber je mehr er sich bemühte, sich von ihr zu lösen, desto stärker fühlte er sich zu ihr hingezogen. Eines Tages würde er das Risiko eingehen müssen, das zu werden, was er nie hatte sein können, jedoch bei diesem Versuch die Fähigkeit zu verlieren, die seine besten Leistungen zeitigte. Ein Mensch zu sein, statt nur eine Rolle zu spielen, könnte ihn so grundlegend verändern, dass er sich durch die Labyrinthe schmutziger Phantasien nicht mehr hindurchlavieren konnte.
    Aber damit musste er sich ein andermal befassen. Er raffte sich auf und machte sich daran, die Fährte zu lesen, die Geronimo hinterlassen hatte; er fing an, die Akten durchzugehen und dabei Notizen zu machen. Das Material aus Heidelberg und Leiden war umfassend, die Schachteln enthielten alles, von Zeugenaussagen bis zu Tatortfotos und Hintergrundberichten zu den Opfern. Glücklicherweise waren die holländischen Akten für Petra ins Englische übersetzt worden, so dass er, von merkwürdigen Wendungen des Übersetzers hier und da abgesehen, keine Probleme hatte, sie zu lesen. Es gab fast nichts aus Bremen, einfach weil die Ermittlung im Anfangsstadium war und Petras Anfrage noch nicht mehr zutage gefördert hatte.
    Als er erst einmal angefangen hatte, machte Petra keinen Versuch, sich mit ihm zu unterhalten, sondern stellte einfach eine frische Kanne Kaffee auf den Esszimmertisch, wo er arbeitete. Sie goss sich selbst eine Tasse ein und sagte: »Ich gehe bald. Ich muss mich um Carol kümmern.«
    Er nickte geistesabwesend, ohne richtig zuzuhören. Er war zu vertieft in das Studium der Opfer. Es war nach Mitternacht, als er, einen Stoß Notizen neben sich, die vorläufige Lektüre des Materials beendete. Er musste die Beziehung, in der die drei Fälle zueinander standen, in einer Tabelle aufzeichnen, musste aber zuerst mehr über die Spezialgebiete der Zielobjekte wissen. Er stand auf und streckte sich, die Nacken- und Rückenmuskeln sträubten sich gegen die plötzliche Bewegung. Es war Zeit für einen Szenenwechsel.
    Er packte seine Notizen zusammen und verließ die Wohnung. Eine kurze Taxifahrt brachte ihn zu seinem Apartmenthaus. Auf der Straße sah er zum Fenster im dritten Stock hinauf. Alles lag im Dunkeln. Wenn Carol zu Hause war, war sie wahrscheinlich im Bett. Ihr Treffen konnte warten.
    Oben ließ Tony seine noch geschlossenen Gepäckstücke stehen und stellte seinen Laptop auf dem kleinen Schreibtisch auf. Er ging ins Internet und rief die Metasuchmaschine auf, mit der sich am besten wissenschaftliche Quellenangaben ausfindig machen ließen. Innerhalb einer Stunde hatte er eine brauchbare Übersicht über die Forschungsgebiete von Walter Neumann, Pieter de Groot und Margarethe Schilling. Ratlos durchsuchte er das Material, das er sich heruntergeladen hatte. Er hatte erwartet, eine offenkundige Gemeinsamkeit der drei toten Psychologen zu finden. Aber ihre Spezialgebiete erstreckten sich von Margarethes Interesse an religiösen Glaubenssystemen über de Groots Studien zu emotionalem Missbrauch bis zu Neumanns Arbeiten über die Psychodynamik des Sadomasochismus.
    Er ging in die Küche und machte sich eine frische Kanne Kaffee, während er das, was er herausgefunden hatte, noch einmal überflog und es mit dem verglich, was ihn die Erfahrung gelehrt hatte. Jeder Serientäter hatte ein Profil seiner Opfer im Kopf. Normalerweise waren die verknüpfenden Faktoren rein körperlicher Natur. Waren die Opfer alle Männer, alle Frauen oder eine Mischung aus beiden Kategorien, fast immer ließen sich daraus Schlüsse ziehen, auf welchen Typ Tony sich einzustellen hatte. Es gab zum Beispiel die älteren weiblichen Opfer eines bestimmten Vergewaltigertyps, die verwundbaren Kinder, die eine bestimmte Art von Mördern anzogen, die selbst als Kind missbraucht worden waren, die blonden Schönheiten, die ausgelöscht werden mussten, weil sie dem unzulänglichen, erbärmlichen Geschöpf, das sie

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