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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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ihre Beine auf den großen Ledersessel hoch, schlug die Speisekarte auf und sagte: »Warum nicht?«
     
    Als Tony die ausführliche Nachricht von Marijke las, fand er, das Schlimmste am Erstellen von Täterprofilen seien die Morde, die er nicht verhindern konnte. Seine Arbeitsweise war intensiv, er vertiefte sich in die Persönlichkeit des Täters und suchte nach einem Sinn hinter seinem Verhalten, das der Rest der Welt als monströs und pervers verdammte. Es war, als führe er einen Dialog mit den Toten, der ihm einen Weg zu einer Art Interaktion mit der Psyche des Mörders wies. Theoretisch sollte dies der Polizei als Wegweiser auf ihrer eigenen Landkarte der gesammelten Informationen dienen, ein Wegweiser, der sie in die richtige Richtung führen würde. Als aber jetzt ein zusätzlicher Name auf der Liste der Opfer erschien, war es unmöglich, dies nicht gewissermaßen als persönliches Versagen zu deuten.
    Er wusste, es war wichtig, nicht zuzulassen, dass diese tiefe Enttäuschung sein Vertrauen in das, was er schon erreicht hatte, aushöhlte. An dem, was Marijke ihm mitgeteilt hatte, war nichts, was irgendeine seiner früheren Schlussfolgerungen erschütterte. Jetzt musste er das neue Material analysieren und in sein Profil integrieren. Es waren einfach neu hinzugekommene Daten, weder eine unausgesprochene Kritik an seiner Arbeit noch ein Anzeichen von Misserfolg, sagte er sich mit Nachdruck.
    Beinahe konnte er es glauben, aber doch nicht ganz. Er las noch einmal, was mit Dr. Calvet geschehen war, und presste die Lippen zusammen, als er die Szene vor sich sah. Diese winzige, schwache Frau, die keinerlei Verdacht geschöpft hatte, war für Geronimo ein leichtes Opfer gewesen. Merkwürdig, dachte er. Die meisten Mörder hätten sich ein so einfaches Zielobjekt zuerst vorgenommen. Aber dieser Mörder hatte so viel Vertrauen in seine Fähigkeiten, dass er mit viel größeren Herausforderungen angefangen hatte. Tony fragte sich, ob die Tatsache, dass er in Bremen gestört wurde, sein Selbstbewusstsein so erschüttert hatte, dass er absichtlich ein schwächeres Opfer gewählt hatte, weil er den Glauben an sich selbst stärken wollte. »Es muss ein Schock für dich gewesen sein, dass dich jemand mitten im Augenblick deines Triumphes unterbrach«, sagte er leise. »Du bist irgendwie damit klargekommen, aber es muss dich noch quälen. Hast du deshalb dieses Opfer in seinem Büro getötet? Dachtest du, dass du dort am Abend, wenn alle nach Hause gegangen waren, eher ungestört sein würdest?«
    Was immer die Antwort war, der geänderte Schauplatz zeigte, dass Geronimo in Bezug auf einige Elemente seiner Verbrechen flexibel war. Aber die Vergewaltigung und die versuchte Strangulation waren keine Kennzeichen für Anpassungsfähigkeit. Sie wiesen auf etwas anderes hin. Er zog den Laptop näher heran und fing an zu tippen.
    Nach dem Mord an Dr. Calvet in Köln wird er in einem Zustand beträchtlicher Erregung sein. Den ersten drei Morden haftete anscheinend kein augenfälliges Element von Sexualität an. Aber Ritualmorde von Serientätern haben immer auch etwas mit der erotischen Befriedigung des Mörders zu tun. Dass es bei den früheren Verbrechen keinen klaren Hinweis darauf gab, scheint mir zu zeigen, dass er die sexuelle Komponente seiner Taten verleugnete. Die Vergewaltigung von Dr. Calvet sollte, genau genommen, nicht als Eskalation seines Handelns gesehen werden. Konkret betrachtet, stellt sie das Auftauchen einer Motivation dar, die von Anfang an da war, wenn auch unterdrückt.
    Bedeutsamer ist aber, dass er sich diesen Zusammenbruch seiner Selbstbeherrschung geleistet hat. Ich glaube, dass es zum Teil deshalb dazu kam, weil er bei dem Mord in Bremen gestört wurde. Aus diesem Grunde muss er beträchtlich verwirrter und viel nervöser gewesen sein, als er sich Dr. Calvet näherte. Ich glaube, er war selbst über sein Verhalten in Köln geschockt. Um die Verleugnung der erotischen Natur seiner Handlungen weiter aufrechterhalten zu können, hat er sich wahrscheinlich eingeredet, eine selbstlose Mission zu verfolgen. Aber jetzt, wo er bis zur Vergewaltigung abgestiegen ist, wird es schwieriger für ihn sein, sich weiter auf diese Selbsttäuschung zu berufen.
    Was bedeutet das für seine Auffindung und die Verhinderung weiterer Verbrechen?
    Ich glaube, er wird sehr bald wieder zu töten versuchen, vielleicht schon in ein paar Tagen. Er muss sein Selbstbild als eine Art Racheengel oder Vergelter von Unrecht wieder

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