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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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sie eine Ohnmacht vorgetäuscht. Viel Phantasie brauchte sie dazu nicht, denn inzwischen klammerte sie sich nur noch mühsam an einen dünnen Faden ihres Bewusstseins. Sie horchte, wie er im Schlafzimmer umherging und sich anzog, hörte seine Schritte im Flur und dann endlich das ersehnte Zuschlagen der Wohnungstür.
    Erst dann ließ sie den Tränen freien Lauf. Heiß und schwer rannen sie ihr aus den Augen, an den Schläfen herab und vermischten sich mit dem Schweiß, der ihr Haar am Kopf kleben ließ. Sie hatte es geschafft, dass er sie nicht hatte weinen sehen. Es war ein winziger Sieg, aber groß genug, um sie vor dem Gefühl zu retten, völlig vernichtet zu sein.
    Allerdings fühlte sie momentan kaum etwas. Es war, als sei Radecki in sie eingedrungen und habe sie ausgehöhlt. Und der physische Schmerz half ihr, denn es war etwas, worauf sie sich konzentrieren konnte. Ihr doppelt vergewaltigter, zerschlagener Körper beschäftigte sie genug.
    Aber obwohl sie vor Schmerz und Kummer benebelt und vom Gefühl der Entwürdigung erdrückt war, war sich Carol bewusst, dass sie nicht einfach so daliegen und ihr Leiden über sich ergehen lassen konnte. Er würde Tony töten. Es war wahrscheinlich schon zu spät, um noch irgendetwas zu tun, das ihn davon abhalten konnte, aber sie musste es versuchen.
    Sie probierte noch einmal, wie fest ihre Handgelenke zusammengebunden waren. Es war vergeblich. Womit immer er sie gefesselt hatte, es gab nicht nach. Sie versuchte ihre Beine zu bewegen und merkte, dass sie ebenfalls gefesselt waren. Ein verzweifelter Schluchzer blieb ihr in der Kehle stecken. Irgendwie musste sie es schaffen.
    Carol drückte die Fersen fest auf die Matratze hinunter und zuckte bei den neuen Schmerzen zusammen, die vom Unterleib aus ihren ganzen Körper durchdrangen. Nach und nach rutschte sie einen qualvollen Zentimeter nach dem anderen auf das Fußende des Bettes zu. Sie schlängelte sich immer weiter vor und schaffte es, die Füße auf den Boden zu stellen. Ihre Muskeln reagierten schmerzhaft, als sie sich langsam aufsetzte. Die Anstrengung ließ sie keuchend nach Atem ringen.
    Behutsam versuchte sie zu stehen. Beim ersten Anlauf zitterten ihre Knie bedenklich, und sie fiel aufs Bett zurück. Die Galle kam ihr hoch, und sie spuckte sie aus. Es war ihr jetzt schon ganz egal, dass sie auf ihre Brust hinuntertröpfelte. Beim zweiten Versuch kam sie besser klar. Als sie sich aufrichtete, schwankte sie wie ein Rohr im Wind.
    Jetzt stand sie zwar aufrecht, konnte sich aber nicht fortbewegen. Mit zusammengebundenen Füßen konnte sie genauso wenig hüpfen, wie sie sich mit den gefesselten Handgelenken von der Decke hätte herunterlassen können. Es ging nicht anders, sie würde sich fortrollen müssen. Vor Schmerz den Tränen nahe, ließ sie sich auf den Boden fallen. Mit einer Mischung von Rollen und verkrampftem Kriechen schaffte sie es bis ins Wohnzimmer, stieß aber dabei schmerzhaft an die Türpfosten. Das Telefon auf dem Schreibtisch schien unendlich weit weg, aber sie wusste, sie musste es bis dorthin schaffen. Das Einzige, was sie weiter antrieb, war der Gedanke, dass Tonys Leben vielleicht von dem bisschen Kraft abhing, das ihr geblieben war. Sie konnte es sich nicht leisten, sich mit dem aufzuhalten, was ihr angetan worden war. Es stand mehr auf dem Spiel als das.
    Vom Schmerz benommen und dabei an den Schreibtisch stoßend, wälzte sie sich durchs Zimmer. Sie wand sich, um das Telefonkabel mit den Zähnen fassen zu können, und riss den Apparat mit einem ungelenken Schlenker zu Boden, wo der Hörer dreißig Zentimeter von ihrem Kopf entfernt liegen blieb. Mit ihren von den Tränen und den Schlägen fast zugeschwollenen Augen blickte sie auf die Tasten. Sie wusste genau, dass sie Petras Handynummer auswendig gelernt hatte, aber es schien ihr so lange her wie in einem früheren Leben, und sie betete, dass sie sich jetzt daran erinnern konnte.
    Zahl um Zahl drückte Carol ihr Kinn auf die Tasten und hoffte, es schnell genug zu tun, dass die elektronische Schaltung nicht einfach abbrach, bevor sie fertig war. Schließlich drehte sie sich so, dass sie den Kopf an den Hörer lehnen konnte. Sie hörte das ersehnte Klingeln, dann brach es plötzlich ab, und ein Anrufbeantworter klickte. Petras Stimme sagte gut gelaunt etwas auf Deutsch, dann piepste es wieder.
    Carol versuchte zu sprechen, konnte aber nur krächzen. Sie räusperte sich, obwohl es wehtat. »Petra. Hier Carol. Ich brauche dich, schnell. Komm in

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