Ein kalter Strom
waren hinter dem Rücken gefesselt und ihre Knöchel ebenfalls mit Ledergürteln zusammengebunden. Ihr Gesicht war mit Blut, Speichel, Schleim und Tränen bedeckt, die geschwollene Nase ganz schief. Ihre Augen waren von sich grün und blau färbenden Schwellungen verdeckt. Man sah Schmierspuren von Blut und Kot auf ihren Oberschenkeln. Es gab keinen Zweifel, was hier geschehen war.
»Um Gottes willen«, stöhnte Petra. Sie ging schnell zu ihr und steckte dabei ihre Pistole in den Hosenbund. Tränen der Wut und des Schmerzes stiegen in ihr auf, als sie an Carols Hals verzweifelt ihren Pulsschlag suchte. Erleichterung ergriff sie, als ihre Finger den langsamen Puls der Halsschlagader spürten.
Was war zuerst zu tun? Petra eilte in die Küche und riss die Schubladen auf, um ein scharfes Messer zu suchen. Sie nahm ein Geschirrtuch und hielt es unter den Wasserhahn.
Vorsichtig schnitt sie die Gürtel an Carols Händen und Füßen durch und fluchte, als sie die tiefen Striemen sah, die sie hinterließen. Carols Arme fielen zur Seite, und ein Stöhnen kam von ihren Lippen. Petra setzte sich hinter sie, zog sie vorsichtig in eine bequemere Stellung und hielt sie sanft auf dem Schoß. Mit dem feuchten Geschirrtuch wischte sie Carol über die Stirn und wiederholte immer wieder: »Carol, ich bin hier, Petra. Ich bin gekommen.«
Innerhalb einer Minute zitterten Carols geschwollene Lider, und dünne Augenschlitze öffneten sich. »Petra?«, flüsterte sie.
»Ich bin hier, Carol. Du bist in Sicherheit.«
Carol bäumte sich in ihren Armen auf. »Tony. Sie haben Tony«, rief sie.
»Radecki?«, fragte Petra, obwohl ihr vom Verstand her völlig klar war, wer die Verantwortung für diesen Albtraum trug.
»Er hat Tony. Er wird ihn umbringen. Er hat es mir gesagt. Er weiß, wer ich bin. Ich bin enttarnt. Und er wird Tony umbringen, weil wir Katerina getötet haben.«
Petra bemühte sich, in Carols Worten einen Sinn zu finden. Was sollte das heißen, dass sie Katerina getötet hatten? Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte das alles jetzt noch nicht einordnen, und es gab offensichtlich Wichtigeres zu tun. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit seit dem Überfall auf Carol vergangen war. Und sie hatte keine Ahnung, wo Radecki und Krasic waren. Also begann sie mit der Hauptfrage: »Wo haben sie ihn? Weißt du das?«
»Nein, ich weiß es nicht. Aber ihr müsst ihn finden. Und sie aufhalten. Du kannst nicht zulassen, dass sie Tony umbringen.« Carols Stimme war voller Verzweiflung. Tränen rannen aus ihren Augenwinkeln, und sie klammerte sich an Petra wie ein angsterfülltes Kind.
»Hat Radecki das mit dir gemacht?« Sie brauchte eine Bestätigung.
»Ja.«
»Wir müssen zum Präsidium fahren, zur Abteilung für Sexualverbrechen. Du musst zum Arzt.«
»Das ist jetzt nicht so wichtig. Ich bin am Leben. Tony wird vielleicht nicht mehr lange leben. Du musst etwas tun, Petra.«
Bevor Petra antworten konnte, hörte sie ihr Mobiltelefon klingeln. »Lass mich abnehmen«, sagte sie und löste sich sanft aus Carols Griff. Sie stand auf und holte ihre Tasche.
»Hi, Schatz.« Die Stimme war vertraut, aber in der Umgebung dieser Wohnung war ihre Fröhlichkeit verwirrend. »Marijke?«
»Stimmt. Rate mal, wo ich bin.«
»Was?«
»Rate, wo ich bin.«
»Ich hab keine Ahnung«, sagte Petra ungeduldig.
»Ich bin fast am Bahnhof Zoo. In einem Taxi. Also, wo kann ich dich treffen?«
»Was? Du bist in Berlin?« Petra fragte sich, ob sie am Durchdrehen war. Das war verrückt. Was hatte Marijke plötzlich in Berlin zu schaffen?
»Ich muss morgen nach Köln, da habe ich beschlossen, einen Abstecher zu machen und bei dir zu übernachten. Ich dachte, das würde dich freuen.« Marijke war klar geworden, dass Petra nicht gerade entzückt war, und konnte jetzt die Enttäuschung in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
»Mein Gott, Marijke, das ist aber jetzt der ungünstigste Moment … Nein, warte, du kannst mir doch helfen. Ich habe keine Zeit, es zu erklären, aber ich brauche dich hier in Carols Wohnung. Kannst du herkommen?«
»Natürlich. Wo ist sie?«
Petra gab ihr die Adresse. »Ich seh dich bald. Dann erkläre ich dir alles. Ich muss Schluss machen, tut mir Leid«, fügte sie hinzu und blickte über die Schulter zu Carol, die sich mit Hilfe des Stuhls hochzog und aufstand.
»Petra, du musst sie finden«, drängte sie.
»Mach ich, mach ich.« Sie ging zum Schreibtisch zurück und nahm das Telefon. »Marijke kommt her. Sie wird dich zum
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