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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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gebunden, so dass er ausgestreckt auf der Tischplatte lag. Es sah aus, als hätte der Mörder ihn vollkommen bekleidet festgebunden und ihm dann die Kleider vom Leib geschnitten, um die leicht gebräunte Haut und den unter der Badehose etwas blasser gebliebenen Teil zu entblößen.
    Diese Entweihung, die Maartens’ eigenem nicht mehr jungem Körper hoffentlich erspart bleiben würde, wäre schlimm genug gewesen. Aber was den würdelosen Anblick richtig obszön machte, war der rote Fleck unterhalb des Bauches, eine hässliche Wunde, aus der Rinnsale getrockneten Bluts über die weiße Haut gelaufen und auf den Tisch getropft waren. Maartens schloss einen Moment die Augen und versuchte nicht daran zu denken.
    Hinter sich hörte er Schritte. Eine hochgewachsene Frau in einem dunkelblauen Schneiderkostüm, das honigblonde Haar zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, erschien auf dem Treppenabsatz. Ihr rundes Gesicht war ruhig und ernst, ihre blauen Augen lagen im Schatten der geraden dunklen Brauen. Sie war auf unspektakuläre Weise hübsch, das bewusst dezente Make-up ließ sie noch sanfter und harmloser aussehen. Maartens wandte sich um und sah Brigadier Marijke van Hasselt, einen seiner zwei Einsatzleiter, an. »Was gibt’s, Marijke?«, fragte er.
    Sie nahm ein Notizbuch aus ihrer Jackentasche. »Der Besitzer dieses Hauses ist Dr. Pieter de Groot. Er lehrt experimentelle Psychologie an der Universität. Vor drei Jahren geschieden, lebt allein. Seine Kinder im Teenageralter besuchen ihn jedes zweite Wochenende. Sie leben bei seiner Exfrau nicht weit außerhalb von Den Haag. Die Leiche wurde heute früh von seiner Putzfrau entdeckt. Sie betrat das Haus wie immer und sah nichts Ungewöhnliches, putzte das Erdgeschoss und kam dann hier herauf. Als sie einen Blick ins Arbeitszimmer warf, sah sie das …« Marijke zeigte mit dem Daumen auf die Tür. »Sie sagt, sie hätte zwei Schritte ins Zimmer gemacht und sei dann hinuntergerannt, um uns anzurufen.«
    »Die Frau, die mit dem Uniformierten an der Haustür gewartet hat, als wir hier ankamen?«
    »Ja, das stimmt. Sie wollte nicht im Haus bleiben, was ich ihr kaum verdenken kann. Ich musste mit ihr in ihrem Wagen sprechen. Tom hat einige von unserer Gruppe zusammengetrommelt und sie losgeschickt, damit sie Nachbarschaftsbefragungen machen.«
    Maartens nickte zustimmend zu dem, was ihr Kollege unternommen hatte. »Später können Sie zur Uni hinübergehen, um zu sehen, was sie Ihnen über Dr. de Groot sagen können. Ist die Spurensicherung schon hier?«
    Marijke nickte. »Sie sind draußen mit dem Pathologen. Sie warten auf Bescheid von Ihnen.«
    Maartens wandte sich ab. »Wir sollten sie reinlassen. Bis sie fertig sind, können wir sowieso überhaupt nichts machen.«
    Marijke sah an ihm vorbei, als er auf die Treppe zuging. »Irgendeine Ahnung hinsichtlich der Todesursache?«, fragte sie.
    »Es gibt nur eine Wunde, soweit ich das beurteilen kann.«
    »Ich weiß, aber es kommt einem …« Marijke unterbrach sich.
    Maartens nickte. »Nicht genug Blut. Er muss ungefähr bei Eintritt des Todes kastriert worden sein. Wir werden sehen, was der Pathologe zu sagen hat. Aber man kann jetzt schon sagen, dass es ein Tod unter verdächtigen Umständen ist.«
    Marijke blickte in das strenge Gesicht ihres Chefs, um festzustellen, ob er das ironisch meinte. Aber sie sah keine Spur mangelnder Ernsthaftigkeit, was auch im Lauf ihrer zweijährigen Zusammenarbeit mit ihm kaum jemals der Fall gewesen war. Andere Kripobeamte schützten sich durch schwarzen Humor, eine instinktive Reaktion, mit der sie gut klarkam. Aber so etwas wie Trost war eine Sache, die Maartens seiner Einsatzgruppe kaum jemals zukommen lassen würde. Sie ahnte, dass sie mehr brauchen würden als Maartens’ Strenge, um mit einem so schrecklichen Mord wie diesem fertig zu werden. Als er die Treppe hinunterging, sah sie ihm nach, und ihr Herz war so schwer wie seine schleppenden Schritte.
    Marijke ging über die Schwelle zum eigentlichen Tatort. Das Spurensicherungsteam hatte eine festgelegte Routine, obwohl Mord in ihrem Revier nicht regelmäßig vorkam. Sie war dafür verantwortlich, den Tatort zu sichern, während Maartens das Team und den Pathologen über den Fall in Kenntnis setzte. Sie nahm Latexhandschuhe und Schutzhüllen für die Schuhe aus dem Lederrucksack, den sie immer bei sich hatte, und streifte sie über. Dann ging sie direkt von der Tür zum Schreibtisch und stand jetzt neben dem Kopf des toten Mannes.

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