Ein kalter Strom
vor relativ kurzer Zeit etwas Entsprechendes gelesen, aber sie war darüber hinweggegangen, weil sie es für irrelevant hielt. Petra arbeitete beim Nachrichtendienst. Ihre Gruppe war verantwortlich für das Sammeln von Informationen zum organisierten Verbrechen, stellte dann alles zu einem Fall zusammen und leitete ihn an die entsprechenden juristischen Organe weiter. Da seit dem Schengener Abkommen die europäischen Grenzen für Kriminelle genauso passierbar waren wie für unbescholtene Bürger, hieß dies oft, dass die Informationen an Kollegen in anderen Ländern weitergegeben wurden, wobei Europol als Leitstelle diente. In den letzten drei Jahren hatte Petra in so verschiedenen Bereichen ermittelt wie Produktfälschungen, Drogenhandel, Kreditkartenbetrug und Menschenhandel. Mord war normalerweise nicht ihr Fach, außer wenn die Ermittler dachten, es könne eine Verbindung zum organisierten Verbrechen vorliegen. Alle schwierigen Fälle, die auch nur entfernt wie Mord unter Kriminellen aussahen, dachte sie spöttisch, reichte man gern weiter – als eine der dreckigen Geschichten, bei denen die Polizei es nicht schwer nahm, wenn kein Schuldiger dingfest zu machen war.
Der Fall, den sie suchte, wäre also möglicherweise als ein Mord in der Unterwelt hereingekommen. Aber wenn er ausgeschieden worden war, weil er nicht ins Schema passte, wäre er nicht mehr in den aktuellen Dateien gespeichert. Vielleicht war er sogar mit der Begründung, nur unnötig Platz wegzunehmen, aus der Datenbank gelöscht worden.
Petra war jedoch zu gewissenhaft, um Informationen zu einem Fall ohne jede Spur zu tilgen. Man wusste ja nie, ob etwas, das von allen anderen abgeschrieben worden war, doch für eine spätere Ermittlung von Nutzen sein konnte. So hatte sie sich angewöhnt, auch zu den anscheinend unwichtigsten Dingen kurze Notizen zu machen. Auf diese Weise konnte sie immer die Ermittler finden, die den Fall ursprünglich untersucht hatten, und die Einzelheiten wiederbekommen.
Sie öffnete einen Ordner, der ihre Notizen enthielt, und sah sich die Dateien der letzten Zeit an. Vier Mordfälle in den letzten sieben Wochen. Einen Vorfall in einer kleinen Stadt zwischen Dresden und der polnischen Grenze, wo aus einem vorbeifahrenden Auto geschossen wurde, und die Ermordung eines Türken in Stuttgart schloss sie aus. Er war verblutet, nachdem ihm mit einer Machete beide Hände abgehackt worden waren. Petra hielt dies eher für einen Racheakt im Familienumfeld als für eine Tat des organisierten Verbrechens, da die Polizei vor Ort absolut nichts Schlimmeres als ein abgelaufenes Visum finden konnte, was den Toten mit Gesetzeswidrigkeit in Verbindung gebracht hätte.
Zwei Fälle blieben also übrig. Ein sehr merkwürdiger Mord in Heidelberg und die Kreuzigung eines bekannten Drogendealers in Hamburg. Ihre Notizen erwähnten kein Skalpieren der Schamhaarzone, aber sie glaubte sich zu erinnern, dass es in einem dieser beiden Fälle vorgekommen war. Sie sah die Fallnummern nach und schickte E-Mails an die beiden Abteilungen der dortigen Polizei. Wenn sie Glück hatte, würde sie bis am Abend eine Antwort haben.
Als Petra zum Kaffeeautomaten ging, war sie sehr zufrieden mit sich. Sie leerte gerade ein Tütchen Zucker in ihre Tasse, als ihre Chefin Hanna Plesch dazukam und sagte: »Sie sehen gut gelaunt aus.«
»Und das werden Sie ändern?« Sie sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.
»Die Schießerei drüben bei der GeSa in der Friesenstraße, forschen Sie da mal ein bisschen nach, sehen Sie mal, was Sie rauskriegen können.« Plesch streckte an ihr vorbei den Arm aus und drückte auf den Knopf für schwarzen Kaffee.
Petra rührte gedankenverloren in ihrem Becher. »Es ist eigentlich nicht unser Gebiet, oder? Ich habe gehört, dass es ein persönliches Motiv geben soll. Die Freundin von einem der Opfer, die durch das vermurkste Heroin umkamen, hat geschossen, stimmt’s?«
Plesch warf ihr ein spöttisches Lächeln zu. »Das ist der offizielle Text. Ich glaube, da stimmt was nicht. Wir haben sie in unseren Akten, wissen Sie, die Frau, die geschossen hat. Marlene Krebs. Wir hatten Kenntnis davon, dass sie in Berlin Mitte gedealt hat. Ein kleiner Fisch, deshalb haben wir sie in Ruhe gelassen. Aber sie soll mit Darko Krasic in Verbindung stehen.«
»Und das bedeutet, dass es über sie einen Kontakt zu Radecki gibt«, fuhr Petra fort. »Wollen Sie also, dass ich mit ihr rede?«
Plesch nickte. »Es könnte der Mühe wert sein. Sie meint
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