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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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ein. Dann kam der alte Mann eines Morgens nach einem dreitägigen Stopp in Hamburg mit einem beladenen Auto an den Kai. Die Mannschaft hatte mit offenen Mündern zugesehen, wie er gelassen ein Kinderbettchen mit zwei vollständigen Sets Bettzeug, mehrere Plastiktüten mit Babykleidung und eine Schachtel mit Flaschen, Säuglingsnahrung und Tabletten zum Sterilisieren auslud. Schließlich hatte der alte Mann einen Kinderwagen die Gangway hinaufgefahren. Er enthielt einen Säugling.
    Niemand wagte es, den Alten zu fragen, was aus Inge geworden war, und sie hatten abgelegt, bevor Gerüchte zu ihnen drangen. Aber als sie das nächste Mal im Heimathafen waren, ging Gunther sofort in die Bars, um sich so viel Tratsch wie möglich anzuhören. Wie er vermutet hatte, war der alte Mann nach Hause gekommen und hatte Inge mit dem Kind vorgefunden. Er hatte sie buchstäblich aus der Wohnung gejagt und warf ihre Kleider hinter ihr die Treppe hinunter. Er hatte die Schlösser auswechseln lassen und sich darangemacht, das Kind selbst großzuziehen.
    Inge, so wurde berichtet, hatte die Stadt verlassen. Einer ihrer Exfreunde arbeitete auf einem Kreuzfahrtschiff und hatte ihr eine Stelle als Bedienung besorgt. Als das Schiff nach Hamburg zurückkam, war Inge nicht mehr dabei. Sie hatte in Bergen gekündigt und war in die norwegische Nacht hinausgegangen, ohne eine Postadresse dazulassen. Soweit er wusste, war das das Letzte, was man in Hamburg von ihr gehört hatte.
    Er fragte sich, was wohl aus ihr geworden war, aber nur auf eine vage, gefühlsmäßig unbeteiligte Art und Weise. Schon als Kind hatte er sich nie phantasievolle Rettungsgeschichten ausgedacht. Es war ihm nie eingefallen zu träumen, seine Mutter käme im Nerzmantel und diamantenbehängt aufs Schiff geschwebt, um ihn aus seinem höllischen Alltag zu erlösen und ihn mit einem luxuriösen Leben zu verwöhnen.
    Wenn er heutzutage an sie dachte, stellte er sich vor, dass sie sich schließlich auf die eine oder andere Art und Weise verkauft hatte, entweder direkt als Prostituierte oder indirekt als Frau von jemandem, den sie als Beschützer ansehen konnte. Es war, so meinte er, ein viel besseres Schicksal, als sie verdient hatte.
    Aber die Geschichte von Heinrich Holtz hatte ihm klar gemacht, dass es sinnlos war, seiner Mutter oder seinem Großvater die Schuld zu geben. Da konnte man genauso gut eine Kugel oder ein Gewehr des Mordes beschuldigen. Der Finger, der abgedrückt hatte und für sein Schicksal verantwortlich war, hatte nicht dem alten Mann gehört. Schuld waren die Psychologen, die es für richtig gehalten hatten, Menschen als Material für ihre Experimente zu benutzen.
    Alle taten so, als sei das mit der Nazizeit zu Ende gegangen. Aber er wusste es besser, er hatte sich kundig gemacht. Aus der Erfahrung mit seinem Großvater hatte er gelernt, dass es nicht sinnvoll war, sich unbedacht in einen Rachefeldzug zu stürzen. Man musste den Feind gut kennen, musste seine Stärken und Schwächen studieren. Nach dem Begräbnis hatte er sich bemüht, alles zu lesen, was er über Theorie und Praxis der Psychologie herausfinden konnte. Zuerst war es wie eine Fremdsprache gewesen. Er musste es immer wieder lesen, bis die Worte verschwammen und sein Kopf schmerzte, aber er kämpfte weiter. Jetzt konnte er sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Jetzt kannte er ihre Wahrheiten fast so gut wie seine eigenen. Er konnte seine Ideen mit ihrer Geheimsprache ausdrücken. Wer von denen hätte geglaubt, dass ein einfacher Schiffer in ihre Welt eindringen konnte?
    Er wusste, dass sie immer noch Menschen als Versuchskaninchen benutzten. Sie spielten immer noch mit der Psyche ihrer Opfer und versteckten sich weiter hinter ihrer beruflichen, wissenschaftlichen Wissbegier, um Schaden anzurichten. Selbst wenn sie angeblich halfen, machten sie alles nur noch schlimmer. Solange sie frei herumliefen, würde sein Los kein Einzelschicksal sein. Andere arme Kerle würden genauso vermurkst sein, wie er es gewesen war. Seine Aufgabe war klar. Er musste eine Botschaft ausschicken, die nicht unbeachtet bleiben konnte.
    Es brachte nichts, an einem oder zweien ein Exempel zu statuieren. Er musste eine Schneise durch die ganze Zunft schlagen. Indem er sich durch zahllose Stöße der in den Fachzeitschriften der experimentellen Psychologie veröffentlichten Arbeiten kämpfte, hatte er seine Opfer mit akribischer Sorgfalt ausgewählt. Er war nur an denen interessiert, die man als die direkten Erben seiner

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