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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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sind. Leute, die über diese Dinge Bescheid wissen, sagen, dass es psychologisch alles einfacher macht und man sich nicht so leicht verheddert.«
    Carol war am Ende der Auswahl angelangt und schloss die Doppeltür ihres Kleiderschranks. Sie ging langsam im Schlafzimmer umher und strich über die vertrauten Gegenstände auf ihrer Frisierkommode und in den Bücherregalen, als ob die Berührung mit den Fingern sie ihrem Gedächtnis so fest einprägen könnte, dass sie wenn nötig immer präsent wären und sie mit der Person, die sie wirklich war, verbinden würden. Sie betrachtete drei gerahmte Fotos, die an ihrem Bett standen. Michael, offen und gut gelaunt, hatte den Arm um die Frau gelegt, mit der er die letzten beiden Jahre gelebt hatte. Ihre Eltern bei der Silberhochzeit, ihre Mutter hatte den Kopf mit einem Blick nachsichtiger Zärtlichkeit an die Schulter ihres Vaters gelegt. Ihr Vater sah direkt in die Kamera, und sein kauziges Lächeln hob seine Augenwinkel. Schließlich ein Schnappschuss von ihr, Tony und John Brandon, ihrem früheren Chef, aufgenommen bei der Büro-Party, mit der man die Lösung des ersten Falls feierte, an dem sie zusammen gearbeitet hatten. Alle hatten den leicht verschleierten Blick derer, die auf einen Schwips zusteuern, aber noch nicht ganz so weit sind.
    Ihr Träumen wurde unsanft durch die Klingel unterbrochen. Carol runzelte die Stirn. Sie erwartete niemanden, ging aber durchs Wohnzimmer, nahm den Hörer der Sprechanlage und sagte: »Hallo?«
    Es krachte und rauschte, dann hörte sie eine blecherne Stimme sagen: »Carol? Ich bin’s, Tony.« Sie nahm den Hörer vom Ohr und starrte ihn an wie einen unbekannten Gegenstand. Die freie Hand drückte automatisch auf den Knopf des Türöffners, während sie zu begreifen versuchte, was sie gerade gehört hatte. Wie eine Schlafwandlerin legte sie den Hörer auf und öffnete die Wohnungstür. Außerhalb ihrer Wohnung mit der hervorragenden Schalldämpfung hörte sie das Quietschen des Aufzugs.
    Die Aufzugtür ging auf, und sie wappnete sich für die übliche Erregung, in die Tonys Anblick sie immer versetzte. In dem kalten Licht sah seine Haut blass wie Holzasche aus, er war wie eine Erscheinung aus einem Schwarzweißfilm. Dann trat er näher und gewann sein gewohntes Aussehen zurück. Sie bemerkte, dass er sein Haar hatte schneiden lassen, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, und als er auf sie zuging, schien er besonders mit sich zufrieden. »Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte er.
    Carol trat zurück und ließ ihn ein. »Was machst du denn hier?«, fragte sie und konnte das Lachen nicht ganz unterdrücken.
    Tony kam herein, berührte sie leicht am Ellbogen und beugte sich vor, um ihr einen braven Kuss auf die Wange zu geben. »Verzeih mir, wenn ich überheblich erscheine, aber am Telefon hast du dich angehört, als könntest du ein bisschen moralische Unterstützung brauchen. Und so wie ich dich kenne, glaubte ich nicht, dass du versuchen würdest, sie anderswo zu bekommen.« Er breitete die Hände aus – eine Geste der Großzügigkeit. »Hier bin ich also.«
    »Aber … solltest du nicht bei der Arbeit sein? Wie bist du hergekommen? Wann bist du eingetroffen?« Bevor er antworten konnte, erschien Nelson, von der vertrauten Stimme angelockt. Er schmiegte sich an Tonys Beine und ließ überall an seinen Jeans schwarze Haare zurück. Tony ging in die Hocke und kraulte den Kater zwischen den Ohren. »Hallo, Nelson. Du siehst noch genauso gut aus wie immer.« Nelson schnurrte, und seine Augen wurden schmal und sahen zu Carol hin, als wolle er sagen, er könne ihr das eine oder andere beibringen. Tony schaute hoch. »Ich bin heute früh mit dem Pendelflug von Edinburgh gekommen. Ich habe heute kaum Veranstaltungen, da dachte ich, ich gehe das Risiko ein und sehe mal, ob ich dich antreffe.«
    »Ziemlich teures Risiko«, sagte Carol. »Du hättest mich anrufen können, ob ich zu Hause bin.«
    Tony richtete sich auf. »Manchmal hab ich es satt, immer nur vernünftig zu sein.«
    Bevor sie es wieder zurücknehmen konnte, hatte Carol schon gesagt: »Und was hält Frances davon?« Sobald ihre Worte heraus waren, veränderte sich sein Gesicht völlig. Es war geradezu, als sei eine Sperre hinter seinen Augen zugefallen.
    »Was ich tue, geht Frances nichts mehr an«, sagte er. Sein Tonfall hielt jede Diskussion so wirksam ab wie ein Panzer.
    Carol konnte ein kurzes Glücksgefühl in der Magengegend nicht unterdrücken. Es konnte kein Zufall sein, dass

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