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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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sonst irgendwas. Und du wirst in einem fremden Land sein, was dieses Gefühl der Isolation nur noch verstärken wird.«
    Seine Worte hingen zwischen ihnen in der Luft und waren so eindringlich, als wolle er etwas ausdrücken, was über ihre oberflächliche Bedeutung hinausging. Carol begriff plötzlich, dass er von sich selbst und von dem Leben sprach, das er für sich gewählt hatte. »Du klingst, als hättest du es erlebt«, sagte sie leise.
    Als normaler Mensch gelten
, dachte er. Aber jetzt war nicht die rechte Zeit für dieses Thema. »Schon so lange her, dass ich mein T-Shirt von damals in die Kleidersammlung gegeben habe«, sagte er, bemüht, locker zu klingen. »Das akademische Leben ist keine natürliche Umgebung für mich.« Carol sah enttäuscht aus, was er für durchaus berechtigt hielt. Sie hatte Besseres verdient. »Und Frances war es auch nicht«, fügte er hinzu. »Aber ich bin nicht gekommen, um über mich zu reden. Wird es möglich sein, dass wir in Kontakt bleiben?«
    »Das hoffe ich. Morgan sagte, sie würden einen Weg finden, mir einen sicheren E-Mail-Zugang zu organisieren.«
    Tony trank seinen Kaffee aus und goss sich nach. »Das würde ich gut finden. Nicht, dass ich viel praktische Hilfe leisten kann, aber es wäre schön zu wissen, dass es dir gut geht. Und du wirst vielleicht froh sein, einen Ort zu haben, wo du jeden Tag ein paar Minuten Carol Jordan sein darfst. Andererseits wirst du vielleicht finden, dass das nur dabei stört, die Rolle aufrechtzuerhalten. Mach’s also, wie es dir am besten passt. Sieh zu, wie du dich in der Rolle fühlst.«
    Carol stellte ihren Becher auf den Tisch und stand auf. Sie ging zum Fenster hinüber und blickte hinaus. Er sah sie im Profil mit den Flächen und Kanten, die er stets klar in Erinnerung hatte. Ein paar Fältchen um die Augen waren ein wenig ausgeprägter, aber sonst hatte sie sich nicht verändert, seit er sie kennen gelernt hatte. Obwohl die Linien um ihren Mund trotzig und entschlossen wirkten, lag jetzt Besorgnis in ihrem Blick. »Ich habe Angst, Tony. Ich bemühe mich, keine zu haben, weil ich weiß, dass Ängstlichkeit schadet, wenn man eine solche Aktion unternimmt. Aber ich habe wirklich richtige Angst.«
    »Du solltest nicht vergessen, dass Angst auch hilfreich ist«, sagte Tony. »Im Lauf dieses ganzen Auftrags wird Adrenalin die Quelle deiner Energie sein. Angst ist eine gute Voraussetzung dafür. Und sie schützt einen vor Selbstzufriedenheit. Was immer du jetzt denken magst, du wirst Radecki irgendwie mögen müssen. Zunächst wirst du bewusst so tun, als fühltest du dich zu ihm hingezogen, aber allein schon das über eine gewisse Zeit durchhalten zu müssen, führt meistens dazu, dass gespielte zu echter Zuneigung wird. Es ist eine Variante des Stockholm-Syndroms, bei dem Geiseln sich mit den Leuten identifizieren, die sie gefangen genommen haben. Ob du willst oder nicht – du wirst finden, dass du ihm näher kommen und ihn wahrscheinlich gern haben wirst. Dagegen ist Angst ein gutes Gegenmittel.«
    Carol rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. »Ich will das, was mir dieser Auftrag bringen könnte, so sehr, dass ich fürchte, ich werde alles tun, was dazu nötig ist. Was ist, wenn ich mich in den Typ verknalle?« Sie wandte sich ihm mit besorgtem Gesicht wieder zu.
    »Da wärst du nicht die Erste. Und es gibt keine einfache Strategie, es zu vermeiden.« Er ging zu ihr hinüber und nahm ihre Hände in seine. »Wenn er nett zu dir ist – und es gibt keinen Grund, warum er das nicht sein sollte –, könnte es dir sehr gefallen, den Geschehnissen ihren Lauf zu lassen. Du musst dir dann vor Augen führen, was du an diesem Menschen vollkommen verabscheuungswürdig findest. Ich weiß nicht, was das für dich sein könnte. Aber es muss in seiner Akte etwas geben, was dir wirklich unter die Haut gegangen ist. Versuch dich zu erinnern, was es war, und halte dich daran fest wie an einem Mantra.« Er drückte ihre Hände und spürte, wie viel kühler als seine sie waren. Er versuchte, die Vorstellung zu unterdrücken, wie sie sich auf seinem Rücken anfühlen würden.
    »Das ist nicht schwer«, sagte sie. »Seine Gefühllosigkeit. Die Art und Weise, wie er dies alles einfädelt und sich dabei nie die Hände schmutzig macht. Ich kann das Bild des toten Dealers auf den Stufen der Polizeiwache und sein Gehirn auf dem Gehweg nicht vergessen. Derweil sitzt Radecki in seiner teuren Wohnung in Charlottenburg, von all dem Mist

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