Ein kalter Strom
Frances so bald nach ihrem Besuch ins Reich der Geschichte verbannt wurde. Was hieß … es konnte alles Mögliche bedeuten, das sie sich noch lange nicht auszudenken erlauben durfte. Es sollte ihr genügen, dass er jetzt hier war, bei ihr. Und zwar aus eigenem Antrieb, nicht auf ihren Wunsch. »Komm und setz dich«, sagte sie. »Kaffee, ja?«
»Oh, bitte. Sie können das menschliche Genom entschlüsseln, aber eine anständige Tasse Kaffee im Flugzeug, das kriegen sie nicht hin.«
»Mach dir’s gemütlich«, sagte Carol und wies auf die über Eck stehende Couchgarnitur, wo der Blick aus den Fenstern am besten war. »Ich bin gleich wieder da.« Sie war schon unterwegs in die Küche.
Statt sich zu setzen, ging Tony im Raum umher. Vieles war ihm vertraut, einige Dinge waren neu. Zwei große Drucke von Jack Vetrianos
Film noir
-Serie in schweren Goldrahmen im Antik-Look, die in dem Häuschen, wo Carol früher gewohnt hatte, völlig fehl am Platz gewesen wären, konnten hier an diesen hohen weißen Wänden ihre starke, düstere Wirkung entfalten. Die CD -Sammlung war gewachsen und umfasste jetzt eine Reihe neuerer Gitarrenbands, deren Namen er erkannte, deren Musik ihm aber vollkommen fremd war. Den Gabbeh in bunten Farben im Mittelpunkt des Zimmers hatte er auch noch nie gesehen.
Aber es gab nichts, das sich mit seiner Erinnerung an Carol nicht vertrug. Sie war noch der Mensch, den er gekannt hatte. Er stand am Fenster und sah auf die alte Kirche hinunter, die mitten in diese moderne Umgebung nicht hineinpasste. Er war nicht sicher, ob er damit, dass er einfach hergekommen war, das Richtige getan hatte. Manchmal musste man jedoch ein Risiko eingehen. Wie würde er sonst überhaupt merken, dass er noch am Leben war?
Carols Stimme unterbrach sein Grübeln. »Kaffee«, sagte sie und stellte einen Kaffeebereiter und zwei Becher auf den niedrigen Glastisch.
Er wandte ihr das Gesicht zu und lächelte. »Danke.« Er zog seine Jacke aus, unter der er einen feinen schwarzen Wollpullover trug, modischer als das, was er früher getragen hatte, dachte Carol. Sie setzten sich mit ihrem Kaffee jeder auf eine Couch, aber nah genug an der Ecke, dass sie sich auch hätten berühren können. »Also«, sagte er, »willst du darüber sprechen?«
Carol zog ihre Beine hoch und nahm ihren Becher in beide Hände. »Ich kann’s kaum abwarten, darüber zu sprechen. Sie lassen mich einfach ins kalte Wasser springen. Total ins Agentendasein eingetaucht.«
»Bei Europol?«, fragte er.
»Nicht direkt. Es ist eine britische Aktion. Um ehrlich zu sein, die Abgrenzungen sind nicht ganz klar. Ich weiß nicht genau, wo in der Sache die Staatssicherheitspolizei aufhört und die Zuständigkeit der Zollbehörde anfängt. Und ich würde mich nicht wundern, wenn die Geheimdienste da auch noch die Hand im Spiel hätten.« Sie lächelte sarkastisch. »Klar ist nur, dass ich Superintendent Morgan verantwortlich bin, der ja zu NCIS gehört. Und mehr soll ich auch gar nicht wissen.«
Tony war durch seine Arbeit bei Verhören von Serienmördern geübt genug, dass sie ihm sein Unbehagen nicht anmerkte. Aber es gefiel ihm nicht, wie die Sache sich anhörte. Aus seinen begrenzten Erfahrungen mit der britischen Polizeiarbeit wusste er, dass solche Grauzonen immer ein Anzeichen dafür waren, dass die Zuständigkeit nicht genau feststand. Wenn die Zeit für das Trommelfeuer kam, würde Carol auf weiter Flur allein dastehen. Dass sie dies nicht einmal vor sich selbst zugab, machte ihm Sorgen. »Was ist dein Auftrag?«
Carol berichtete ihm alles, was Morgan ihr über Tadeusz Radecki erzählt hatte. »Morgan sagte, als er mich auf der Europol-Bewerbung sah, hätte er kaum seinen Augen getraut«, fuhr sie fort. »Katerina war tot, aber hier war ihr Double und bewarb sich um Arbeit ganz vorn beim Nachrichtendienst. Und so kam ihm die Idee, eine Aktion aufzuziehen, bei der ich der Köder sein soll, auf den Radecki hereinfällt.«
»Du wirst Agentin, um Radecki zu verführen?« Tony schien der Boden unter den Füßen zu schwinden. Er hatte gedacht, diese Art Falle sei mit dem Kalten Krieg verschwunden.
»Nein, nein, es ist raffinierter. Es gibt einen Trick. Laut Morgan hatte Radecki einen netten kleinen Deal mit einem Gangster in Essex laufen, Colin Osborne. Osborne schleuste über einige Textilbetriebe im East End Radeckis illegale Einwanderer ein. Alle paar Monate gab er einem Kontaktmann bei der Einwanderungsbehörde einen Wink, und sie wurden abgeholt und in
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