Ein kalter Strom
abgeschottet, und hört Verdi oder Mozart, als habe er nichts damit zu tun. Das empört mich.«
»Führe dir jedes Mal, wenn du dich zu sehr zu ihm hingezogen fühlst, diese beiden gegensätzlichen Bilder vor Augen. Das wird dich fest in dem Ziel bestärken, um dessentwillen du dort bist.« Er ließ ihre Hände los und trat zurück. »Du kannst es, Carol. Du bist gut genug, und du hast genug Kraft dafür. Und du hast etwas, wohin du zurückkehren kannst.« Er hielt ihrem Blick stand. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, versprach er ihr etwas, das er einhalten zu können glaubte.
Hätte Frau Dr. Margarethe Schilling gewusst, dass es der letzte Nachmittag war, den sie erlebte, dann hätte sie sich wahrscheinlich dafür entschieden, ihn anders zu verbringen. Vielleicht damit, dass sie noch einmal mit ihrem Geliebten ihren Lieblingswaldspaziergang gemacht hätte. Oder vielleicht hätte sie mit ihren besten Freunden bei gutem Essen und Wein und lockerer Unterhaltung am Küchentisch gesessen. Oder – das war am wahrscheinlichsten – sie hätte zusammen mit ihrem achtjährigen Sohn Hartmut ein Computerspiel gespielt. Selbst der schreckliche Kerl, ihr gefühlloser Exmann, hätte nicht darauf bestanden, dass sie die festgelegte Zeit einhielt, die sie mit ihrem Sohn verbringen durfte, wenn er gewusst hätte, dass sie sterben würde.
Da sie aber nicht wusste, was ihr bevorstand, betrachtete sie stattdessen die Zeit in der Universitätsbibliothek als gut angelegt. Ihr akademisches Interesse galt hauptsächlich den psychologischen Auswirkungen religiöser Glaubenssysteme, und vor einiger Zeit hatte ein Besuch im Römisch-Germanischen Museum in Köln sie auf Überlegungen darüber gebracht, wie es sich auf die germanische Bevölkerung ausgewirkt haben mochte, dass ihr nach der Besetzung die römischen Götter aufgezwungen wurden. Sie war auch fasziniert von der Frage, ob das Aufeinandertreffen zweier verschiedener religiöser Systeme einen Einfluss auf die römischen Besatzer hatte.
Ihre Forschung war noch im Anfangsstadium, wo sie nur Information sammelte, bevor sie beginnen konnte, Theorien zu formulieren. Es war ein ermüdender und langweiliger Teil der Arbeit. Stunden, die sie in staubigen Archiven verbrachte, um irgendwelche Spuren zu verfolgen, die sich oft in einer Sackgasse verloren. Sie hatte von Forschern gehört, die sich tatsächlich beim Hantieren mit alten Materialien, die seit Jahrhunderten kaum je angerührt worden waren, mit alten Krankheiten ansteckten, aber bis jetzt war ihr selbst nichts so Drastisches passiert.
Die Risiken, die ihre Arbeit normalerweise mit sich brachte, waren ganz anderer Art. Margarethe hatte jahrelang mit lebenden Versuchspersonen gearbeitet und bei ihnen die Verbindung zwischen religiösem Glauben und Persönlichkeit untersucht. Zu ihrer Arbeit hatte auch gehört, dass sie diesen Glauben zu unterlaufen versuchte, und manchmal waren die Ergebnisse, milde ausgedrückt, beunruhigend gewesen. Es hatte ihren Versuchspersonen wenig Trost gebracht, sie daran zu erinnern, dass sie informiert worden waren und ihre Zustimmung zu den klinischen Experimenten gegeben hatten, und sie war verschiedentlich starken Angriffen gegen ihre Person ausgesetzt gewesen. Trotz ihrer Ausbildung fand Margarethe solche Konflikte anstrengend und musste zugeben, dass die Idee, über längst Verstorbene zu forschen, klare Vorteile hatte.
Kurz nach vier Uhr, als sie von zu viel intensiver Konzentration auf unklares Material Kopfschmerzen bekam, verließ sie die Bibliothek. Als sie in den bewölkten Nachmittag hinaustrat, war das ein richtiger Segen, selbst bei dem feuchten Wetter, das Regen ankündigte. Sie hatte keine Lust, eher als nötig in ihre leere Wohnung nach Hause zu gehen, denn sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, allein zu leben. Die Zimmer, die von der Erinnerung an ihren Sohn widerhallten, schienen zu groß.
Die bitterste Ironie ihrer Scheidung war für Margarethe, dass das, was ihre Ehe vergiftet hatte, sich auch gegen sie gewandt hatte, als es um das Sorgerecht für ihren Sohn ging. Sein Vater war ein fauler Parasit, der den Vorwand, für das Kind sorgen zu müssen, dazu nutzte, um sich vor den Anforderungen einer Berufsausübung zu drücken. Obwohl er für die Hausarbeit keinen Finger gerührt und es ihr überlassen hatte, zwischen dem Beruf und der mit Hartmut verbrachten Zeit das Kochen, Putzen und Einkaufen zu erledigen, und obwohl er sich in der Zeit, in der sein Sohn in
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