Ein Kerl macht noch keinen Sommer
gegangen war. Das war in gewisser Weise ein gutes Zeichen, versuchte sie sich einzureden, denn immerhin war er nicht zurückgekommen, um seine Sachen abzuholen oder eine Aufteilung des Vermögens zu verlangen. Und sein Anteil an der Hypothek und den Gemeindesteuern ging noch immer auf der Bank ein. Aber sie sehnte sich danach, seine Stimme zu hören und ihn zu sehen. Sie musste sich schwer zusammenreißen, um auf ihrem allmorgendlichen Weg zum Zug nicht einen Umweg an seinem Geschäft vorbei zu machen. Sie wusste wirklich nicht, was sie tun würde, wenn sie ihn sah. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich ihm nicht an den Hals werfen würde, ihn zwingen würde, sie zu küssen, ihn anflehen würde, nachhause zu kommen. Oder noch schlimmer – ob sie sich auf Lynette Bottom stürzen und sie an den Haaren zerren und sich zutiefst blamieren würde, indem sie irgendetwas Unbeherrschtes, Wütendes, Schnippisches sagte. Daher ließ sie ihm seinen Willen, ohne ihn zu behelligen, setzte ihn nicht unter Druck und hoffte, dass eines Tages auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht blinken würde, er habe seinen Spaß gehabt und wolle nachhause kommen.
An den Wochenenden musste sie sich zwingen, ihren Morgenmantel gegen richtige Kleidung zu tauschen, und erst recht, sich zu schminken. Noch vor ein paar Wochen hätte sie ohne volle Kriegsbemalung nicht einmal den Müll weggebracht – jetzt ging sie zu Morrison’s einkaufen, ohne auch nur einen Klecks Grundierungscreme aufzutragen. Ihr matt aussehendes kastanienbraunes Haar wuchs an den Wurzeln grau nach. Ihr Haar war schon immer ein Spiegelbild ihrer Stimmung gewesen. Wenn sie glücklich war, dann war es hell und glänzend, aber jetzt sah es stumpf aus, selbst wenn sie es eben erst gewaschen hatte. Ihre ungeschminkten Augen waren verquollen vom Schlafmangel. Sie sah fix und fertig und zehn Jahre älter aus, als sie war. Es fehlte nicht mehr viel, und sie würde in Pantoffeln und einem pinkfarbenen Frotteepyjama zu den Läden um die Ecke gehen. Und der gefürchtete Geburtstag, an dem das Leben, wie es so schön hieß, angeblich erst begann, stand vor der Tür. Na toll. Sie fragte sich, ob es ein schmerzfreier Tod war, wenn man sich in einer warmen Badewanne die Pulsadern aufschnitt, oder ob dieses Gerücht genauso bescheuert war wie ihr ganzes restliches Leben.
»Auf, auf, zu neuen Taten!«
Raychels Wimpern gingen blinzelnd auf, als Ben sie sanft weckte. Sie streckte sich gemächlich, und er schüttelte missbilligend den Kopf.
»Dass du ja nichts überstürzt.«
Raychel lachte und stemmte sich schwerfällig hoch, damit Ben das Tablett auf ihrem Schoß absetzen konnte. Jeden Sonntagmorgen brachte er ihnen beiden das Frühstück ans Bett. Das tat er, seit sie mit siebzehn zusammengezogen waren – auch wenn er sich ein großes englisches Frühstück damals noch nicht zutraute und es daher nur Toast und Kaffee gegeben hatte, mit einer albernen Blume in einem Eierbecher daneben.
Er setzte sich mit seinem eigenen Tablett neben sie und langte zu.
»Wie soll ich das denn alles schaffen!«, fragte sie. »Du gibst mir immer viel zu viel.«
»Jetzt iss schon. Du hast nichts auf den Rippen. Es gibt keinen Nachtisch für dich, bevor du nicht aufgegessen hast!« Er drohte ihr mit dem Finger, und sie spießte ein Würstchen auf und tunkte es mit einem Ende in Ketchup. Das riesige Frühstück, das er auftischte, schaffte sie nie allein; er musste ihr jedes Mal dabei helfen.
»Denk bloß, nur noch drei Sonntage in diesem Haus, und dann werden wir in unserer eigenen Wohnung sein.«
»Na, dann sollten wir es besser genießen, denn wenn ich erst anfangen muss, eine Hypothek abzubezahlen, werden wir uns zum Frühstück nur noch ein Pop-Tart teilen können«, entgegnete Ben zwischen einem Bissen Frühstücksspeck.
»Das macht mir gar nichts.« Raychel dachte seufzend an die neue Wohnung, in die sie bald ziehen würden.
»So weit kommt’s noch!«, sagte Ben. »Ich mache dir doch gern das Frühstück.«
»Du verwöhnst mich«, lächelte Raychel. Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf seine stoppelige Wange.
»Gib mir lieber dieses Würstchen, wenn du es nicht isst«, sagte Ben.
»Nichts da«, sagte Raychel und stopfte sich das ganze Würstchen auf einmal in den Mund, bevor Ben es sich schnappen konnte.
»Ich wusste gar nicht, dass du das kannst!« Ben grinste frech. »Raychel Love, ich glaube, du musst vielleicht noch ein bisschen länger im Bett bleiben und mir diesen Trick noch
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