Ein kleines Stück vom Himmel nur
verschwunden. Jetzt kenne ich den Grund dafür und habe furchtbare Schuldgefühle. Ich dachte, ich würde sie schützen, meine Familie schützen. Stattdessen habe ich unsere Beziehung zerstört.
Ich kann mir auch gut vorstellen, wie sie zu ihren völlig falschen Schlussfolgerungen gelangt ist. Die Briefe waren ziemlich uneindeutig. (Ich kann mich immer noch genau an den Wortlaut erinnern.) Was Ellen sich beim Lesen zusammengereimt hat, war aus ihrer Sicht nur logisch. Nur leider stimmt es überhaupt nicht.
Nun bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als Ellen und Ritchie die Wahrheit zu sagen, solange ich noch Zeit dazu habe. Es wird ein furchtbarer Schock für die beiden sein. Sie werden sich betrogen und hintergangen fühlen, und ich kann mir kaum vorstellen, dass sie mir je vergeben werden. Im Laufe der Jahre habe ich meine Sünden vergröÃert, indem ich versucht habe, sie zu verbergen. Wahrscheinlich habe ich mir selbst auch etwas vorgemacht. Ich habe mir eingebildet, ich würde ihnen die Wahrheit verschweigen, um sie zu schonen, während ich vermutlich in Wirklichkeit bloà viel zu feige war. Wie bringt man seinen Kindern so etwas bei? Aber ich kann mich unmöglich noch länger davor drücken. Ich muss die Dinge richtigstellen. Das bin ich ihnen schuldig.
Sarah blickt mich erwartungsvoll an.
»Sarah, Schatz«, sage ich. »Ich weiÃ, dass du Antworten erwartest. Aber ich kann sie dir im Moment noch nicht geben. Ich muss erst mit deiner Mutter und mit Ritchie reden â und das mit beiden gemeinsam.«
Sarah kaut auf der Lippe herum. »Mum hat angedeutet, sie würde dich besuchen kommen. Soll ich sie anrufen?«
Das ist eine Sache, die ich selbst erledigen muss. »Nein, das mache ich schon. Und, bitte Sarah â wenn es dich nicht stört, würde ich jetzt gern zu Bett gehen. Ich bin wirklich müde.«
Doch obwohl ich müde bin, weià ich, dass ich nicht einschlafen werde. Ich werde wach liegen, während im Dunkeln die Gesichter und Erinnerungen aus der Vergangenheit an mir vorüberziehen.
Sechster
T eil
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Vergangenheit
I
Nachdem Nancy ganz frisch als Pilotin zur ATA gekommen war, hatte sie sich schon einmal Gedanken über das Rätsel der Zeit gemacht. Wie ist es möglich, dass Minuten einem manchmal wie Stunden erscheinen, während ein ganzer Tag sich bei anderen Gelegenheiten auf die Kürze eines Augenzwinkerns zu reduzieren scheint? Nun kam es ihr so vor, als könne die Zeit beides zugleich. Sie konnte kaum glauben, dass sie gerade mal ein Jahr in England war. Florida schien nicht bloà auf der anderen Seite des Atlantiks, sondern auch ein ganzes Leben zurückzuliegen. Die Tage waren merkwürdig dehnbar; vollgepackt mit Ereignissen, rauschten sie nur so vorüber und zogen sich zugleich endlos dahin, einer fernen Zukunft entgegen, in der sie Mac wiedersehen würde.
Ihre Begeisterung für den Krieg war inzwischen verflogen, begraben unter einer Lawine aus Sorge und Niedergeschlagenheit. Sie sorgte sich ständig um Mac und Joe; der eine führte eine Staffel, die nachts Angriffe flog, der andere steuerte einen Bomber. Und über allem lastete die quälende Sehnsucht nach Mac. Sie hatten ihr heimliches Zwischenspiel gehabt, doch das war nicht genug gewesen, denn es hatte Nancy erst einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie es sein könnte, und in ihr ein Feuer entzündet, das nun hell und ungestüm wie ein Waldbrand loderte.
Sie wusste nicht, wann sie wieder zusammen sein würden und ob überhaupt. Dieses Bewusstsein quälte sie schmerzlich und überschattete all ihre Gefühle mit einer bittersüÃen Melancholie, die kaum zu ertragen war. Sie liebte ihn, und er liebte sie. Trotzdem waren die trennenden Schranken nicht zu überwinden.
Nancy flog Blenheims, Wellingtons und Ansons, oft arbeitete sie bis zu zwölf Stunden am Tag. Und die ganze Zeit über war Mac bei ihr, in ihren Gedanken und Gefühlen.
September 1943: Ein strahlend blauer Himmel und ein Sonnenschein, so klar und scharf, dass er in den Augen blendete. Die Brombeeren reiften an den Hecken, und morgens früh und abends ahnte man bereits den Herbst. September, der Monat, in dem Nancy geboren war.
Soweit sie es überblicken konnte, wusste nur eine Person in White Waltham von ihrem Geburtstag: Krystyna Rabouwski, eine junge Polin, die aus ihrer Heimat geflohen war und seit Anfang 1941 für die
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