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Ein kleines Stück vom Himmel nur

Ein kleines Stück vom Himmel nur

Titel: Ein kleines Stück vom Himmel nur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelia Carr
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selbst fühlt, so viele widersprüchliche Emotionen wirbeln in ihr herum.
    Doch eine ist stärker als alle anderen: das schlechte Gewissen. Schuldgefühle liegen ihr schwer im Magen wie eine Mahlzeit, die man abends zu spät gegessen hat. Am liebsten würde sie sich ganz klein machen, davonlaufen und sich verstecken, so sehr schämt sie sich. All die Jahre hat sie Ritchie für Johns Tod verantwortlich gemacht, und er hatte überhaupt nichts damit zu tun. Sie hat sich von ihrer Familie losgesagt, weil sie sich ihrer Sache so sicher war, dabei hatte sie vollkommen Unrecht. Ritchie traf keinerlei Schuld. John hat sich selbst das Leben genommen. Weil …
    Sie verspürt einen Stich in der Brust und sinkt in sich zusammen. John, ach, John! So sehr hast du dich gequält, und wir haben nichts davon gewusst. Warst so unglücklich, dass du dir selbst das Leben genommen hast. So viel zum Goldjungen, auf dem alle Erwartungen ruhten . Vielleicht war das ja auch ein Teil des Problems und er hatte geahnt, dass er den hohen Erwartungen nicht gerecht werden konnte. Ach, John, John …
    Ellen schiebt die Bettdecke beiseite, sie kann ihre Last nicht länger ertragen. Sie tappt zum Fenster und zieht die Vorhänge zurück. Um diese Tageszeit steht die Sonne jenseits des Hauses, so dass das Gebäude einen langen Schatten auf den Rasen wirft, und der Baum vor dem Fenster wirkt wie eine einzige dunkelgrüne Masse und hat noch nicht die filigrane Struktur, die er später am Tag erhält. Ellen blickt nach draußen, ihr Herz, ja ihr ganzes Wesen schmerzt, wenn sie an die Seelenqualen ihres lange verlorenen Bruders denkt und sich eingestehen muss, dass sie nichts tun konnte, um ihm zu helfen.
    Sie sieht ihn jetzt im Schatten auf der Wiese stehen, genau wie sie ihn schon vor zwei Tagen, als sie ankam, in jedem Winkel des Hauses sehen konnte. Sie sah ihn hinten im Garten, wo er ihr Fahrrad reparierte, er pumpte die Reifen auf und ölte die Kette. Sie sah ihn aus dem Badezimmer kommen, ein Handtuch um die Hüften gewickelt, das blonde Haar dunkel, weil es noch feucht von der Dusche war. Sie hörte ihn, wie er die Rock ’n’ Roll-Songs mitsang, die er so geliebt hatte: Bill Haley, Little Richard, Elvis. Jetzt sieht sie ihn den Rasen mähen; er trägt rote Laufshorts und ein schwarzes ärmelloses T-Shirt. In der Morgensonne leuchtet der Flaum seiner blonden Haare auf Armen und Brust golden. Ach, John! … Einsam und allein hast du gelitten, und wir haben nichts davon gewusst. Du hast so sehr gelitten – und wir haben nicht das Leiseste geahnt.
    Geheimnisse. Plötzlich bleckt Ellen die Zähne, eine verzweifelte Grimasse, die an ein wildes Tier erinnert.
    So viele Geheimnisse! Und alle haben sich an der Vertuschung beteiligt. Ihre Mutter. Ihr Vater. John. Sie selbst. Und wohin hat es geführt? Hierhin, in diese Situation. Eine Familie, die durch Geheimnisse entzweit wird. Ritchie, so scheint es, ist der Einzige, der kein Geheimnis hat. All seine Fehler sind deutlich sichtbar; er ist der Einzige, der sie nicht verbirgt. Eigentlich paradox. Wenn man die Fehler eines Menschen kennt, gibt es wenigstens keine unliebsamen Überraschungen. Man nimmt ihn, wie er ist, oder lässt es bleiben. Und der Mensch, dem sie die meiste Schuld gegeben hat, hat sich als der Einzige erwiesen, der nichts zu verbergen hat.
    Wie konnte es bloß so weit kommen? Wahrscheinlich lag es an der Art, wie man früher mit vielen Dingen umgegangen ist. Alle legten so großen Wert auf Anstand und den äußeren Schein. Als es noch verhältnismäßig enge Moralvorstellungen gab, wagte niemand, sich ihnen zu widersetzen. Ihre und die vorhergehende Generation machten sich über die Doppelmoral der Viktorianer lustig, die die Beine ihrer Konzertflügel bedeckten, weil sie den Anblick für unschicklich hielten, während sie sich hinter verschlossenen Türen ihren liederlichen Ausschweifungen hingaben. Doch sie unterschieden sich gar nicht so sehr voneinander. Die menschliche Natur ändert sich nicht, nur die Einstellungen dazu. Heutzutage kann man als Alleinerziehende so viele Kinder haben, wie man will, und niemanden schert es. Man kann hoch erhobenen Hauptes schwul sein, Kinder adoptieren und sogar heiraten. Noch vor einer Generation wäre das undenkbar gewesen, eine Schande.
    So hatten sich im Namen der Wohlanständigkeit die Geheimnisse aufgetürmt und waren

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