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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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…«
    »Ist die Lust auf ein Stück Braten unanständig?« Chakimow schüttelte den Kopf. »Der Oberst ist der beste Kommandant, den ich bisher kennengelernt habe, und ich fahre seit vier Jahren in der Transportbrigade. Kenne genug andere Lager. Das schlimmste ist dein Stammlager mit dem Satan Rassim! Hier gibt es so etwas nicht wie in 451/1. Zweitausend Weiber hat Kabulbekow unter der Knute, zweitausend Hyänen, sage ich dir – aber er betrachtet sie als Menschen. Wo findet man das noch?« Chakimow blinzelte Abukow an und legte den Arm um seine Hüfte. »Wenn's möglich ist, Victor Juwanowitsch, schenk ihm heimlich einen saftigen Braten. Er wird's dir nie vergessen … So einer ist Belgemir Valentinowitsch.«
    Vom Magazin her war unterdessen der Verwalter gekommen, ein langer; dürrer Mensch, ganz das Gegenteil zum fetten Gribow. Geradezu verhungert sah er aus. Aber das war nicht seiner Ehrlichkeit zuzuschreiben, sondern einem Gallenleiden, das allen Medikamenten widerstand. Wenn Martynow, so hieß der Arme, das Fleisch nur roch, wurde ihm übel. Dagegen konnte er Käse und Milchspeisen in so rauhen Mengen verdrücken, daß man eine eigene Molkerei im Lager gebraucht hätte – aber wer vermochte hier eine Kuhherde durch das mörderische Klima von Winter und Sommer zu bringen? Die Hauptarbeit im Magazin leistete denn auch eine Frau, die Begnadigte Olga Michaelowna Gasmatowa, und die war nun wirklich dick wie ein Faß und machte kein Geheimnis daraus, daß Fressen eines der schönsten Dinge im Leben ist.
    Die Gasmatowa war gefürchtet. Sie war selbst zehn Jahre lang Häftling gewesen, verurteilt wegen Totschlags an einem Liebhaber – das war seinerzeit in Kasan geschehen, und die Olga, schwarz, schlank und rassig, galt damals als das beste Hürchen der Stadt. Ursprünglich zu lebenslanger Haft verurteilt, hätte sie eigentlich ihre Strafe bis zum Ende absitzen müssen; jedenfalls sah sie keinen Ausweg – bis plötzlich aus Anlaß des Jahrestages der Revolution der Strahl der Gnade auch auf die Gasmatowa fiel. Das Lebenslänglich wurde in 15 Jahre umgewandelt. Und als sich Olga Michaelowna, vom Glücksgefühl aufgeblasen wie ein Ballon, mit dieser Aussicht auf baldige Befreiung abgefunden hatte, kam ein Genosse vom GULAG zu ihr, legte ihr ein Schriftstück vor und sagte: »Unterschreib das, du Hurenaas, und pack deine Sachen!«
    »Keine Begnadigung mehr?« stotterte Olga voller Angst. »Warum denn?«
    Dann las sie das Papier und erfuhr, daß man sie ab sofort begnadigt habe, daß sie nun frei sei. Nicht ganz frei – das regelte ein Schlußsatz. Er befahl ihr, den Rest ihres Lebens in Sibirien zu verbringen. Nur unter dieser Bedingung sei sie dann ›frei‹.
    Die Gasmatowa unterschrieb natürlich, packte ihre wenigen Sachen, verließ das eingezäunte und bewachte innere Lager der Sträflinge, überquerte den großen Platz mit dem Fahnenturm, betrat die Kommandantur, ließ sich bei Oberst Kabulbekow melden und sagte:
    »Ich bin begnadigt. Ich bin frei. Eine vollwertige Genossin. Die Genossin Gasmatowa bittet den Genossen Kommandanten, sie in der Verwaltung zu beschäftigen. Ich habe mich so an alles hier gewöhnt, ich will nicht weg. Wohin sollte ich gehen? Sibirien ist überall Neuland – meine Heimat ist jetzt hier, nach zehn Jahren.« Es dauerte ein halbes Jahr, bis die Zentrale in Perm endlich die Erlaubnis gab und die Gasmatowa als Lagerarbeiterin anstellte. Gehalt 150 Rubel – das war ein Vermögen. Wo konnte man sie denn ausgeben? Am meisten freute sich der Verwalter Martynow. Er machte die Gasmatowa sofort zu seiner Stellvertreterin.
    Und damit begann die Tragödie für das Frauenlager. Denn es gibt nichts Schlimmeres als einen begnadigten kriminellen Häftling, der plötzlich zum Herrscher über seine ehemaligen Genossen wird. Bekannt mit allen Tricks, die er ja selbst einmal angewandt hatte, war es nun unmöglich, dem Magazin heimliche Portionen zu entlocken. Die Gasmatowa hing wie eine Spinne im Netz, fraß sich kugelrund, wog aber bei den Zuteilungen so peinlich genau ab, daß selbst die Chefköchin maulte:
    »Halt wenigstens beim Wiegen den Atem an, dein Atem wiegt schon ein paar Gramm. Himmel, puste nicht auf die Waage!«
    »Dann wollen wir mal sehen, was gekommen ist!« sagte Martynow jetzt nach Ankunft des neuen Lebensmitteltransports freundlich. »Genossen, haltet eure Listen bereit. Fangen wir mit den Kartoffeln und den Teigwaren an. Wer hat sie?«
    »Wagen Nummer vier … Wagen Nummer sechs

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