Ein Kreuz in Sibirien
…«
Chakimow legte den Arm wieder in Abukows Hüfte und zog ihn weg. »Wir kommen zuletzt dran, das kenne ich«, sagte er. »Der Kühlwagen ist immer der letzte, meist wird es Abend, weil es dann weniger Augen gibt. Die ganze Welt ist nur Beschiß – warum leugnen das bloß alle?«
Eine halbe Stunde war Abukow allein.
Drei Wagen wurden nun von Frauen entladen, die Säcke und Kisten in die Lagerhalle schleppten, Körbe und Kartons auf die Schulter stemmten, weit nach vorn gebeugt mit ihren schweren Lasten von den Wagen zum Lager tappten – hin und her, eine nie abreißende Kette, ein lebendes Transportband. War eine Frau allein zu schwach, faßte eine andere mit an, wortlos und geduldig, während die Fahrer herumstanden, lachten, die Weiber musterten, sich über ihre Körper unterhielten, der einen in den Hintern kniffen, der anderen in die Brust, der dritten unter den Rock und gemeine Reden führten.
»Wenn ich dich zu fassen kriege, reiß ich dir den Schwanz aus«, sagte eine noch stämmige Frau, die sich gerade einen Kartoffelsack auf die Schulter schieben ließ, zu dem Fahrer des Wagens Nummer vier. »Bleib mir bloß weg mit deiner Affenschaukel!«
Die Fahrer brüllten vor Lachen. Noch war es hell, noch konnte man mutig sein. Sobald die Nacht kam, war es Selbstmord, sich außerhalb des Hauses blicken zu lassen. Was die Weiber sagten, das war nicht bloß so dahergeredet; jeder kannte den Fall des armen Genossen Schukowskyi, der nur mal Luft schnappen wollte im Freien – er kehrte nicht ins Haus zurück und wurde am nächsten Morgen am Waldrand gefunden, kastriert und tot.
Dies war das einzige Mal, daß Belgemir Valentinowitsch Kabulbekow nicht stolz auf sein Lager war, sondern lange darüber nachdachte, ob er nicht seinen berüchtigten Kollegen Rassul Sulejmanowitsch Rassim vom Männerlager JaZ 451/1 zum Vorbild nehmen sollte. Aber dann brachte ihm der Lagerchor ein Ständchen mit Liedern aus seiner kaukasischen Heimat, und sein Herz schmolz dahin.
Abukow ging langsam hinüber zum Hospital des Frauenlagers. Es zog ihn fast magisch dorthin, als rufe ihn eine stumme Stimme und ziehe ihn heran. Er betrat das Gebäude und sah sich in der kleinen Eingangshalle um. Hier glich fast alles dem Hospital von JaZ 451/1, nur war es so still, als sei das Haus verlassen, und überall blitzte es vor Sauberkeit. Der Boden, die Wände, die Fenster, die Decke – alles weiß lackiert und gepflegt. Im Männerlager war das Hospital wie ein Bienenhaus, raus und rein ging es, man lärmte, schrie, schimpfte, fluchte – ein Chaos gegen die Stille und Sauberkeit in diesem Haus.
Frauen, dachte Abukow … es war ihm sogar, als schwebe in der Luft ein süßlicher Duft von Parfüm. Keine hastenden Sanitäter, kein brüllender Dshuban Kasbekowitsch, kein Jachjajew, der von Zimmer zu Zimmer wieselte, um zu kontrollieren, ob auch alles tatsächlich bettlägerig war.
Erst als Abukow schon über fünf Minuten unschlüssig dagestanden hatte, kam ein Mädchen in einem weißen Kittel den langen Gang hinunter zur Eingangshalle. Sie hatte kurze, struppige blonde Haare, ein rundes Gesicht mit einer Stupsnase, lange schlanke Beine und bewegte sich lautlos über den Kunststoffboden. Als sie Abukow bemerkte, winkte sie ihm freudig zu, beschleunigte ihre Schritte und fiel ihm, als sie vor ihm stand, plötzlich um den Hals, küßte ihn auf beide Wangen, legte den Kopf an seine Schulter und flüsterte ihm ins Ohr:
»Endlich sind Sie gekommen, Väterchen. Wie glücklich sind wir …«
Abukow war erstarrt.
»Sie irren … irren sich, Genossin …«, sagte er steif. Es gibt höllische Fallen, in die man hineinfällt. »Ich bin Fahrer der Transportbrigade Surgut.«
»Sie sind Victor Juwanowitsch Abukow«, flüsterte sie und blieb mit ihrem Kopf an seiner Schulter.
»Ja …«
»O segne mich, Väterchen! Ist das ein Tag! Der Himmel war uns gnädig. Sie sind gekommen!«
»Ich verstehe überhaupt nichts.« Abukow sah über den Kopf des Mädchens hinweg gegen die Wand. Der weiße Lackanstrich blendete ihn fast infolge des Sonnenlichts, das durch die Fenster fiel. »Wer bist du?«
»Lilit Iwanowna Karapjetjan.« Sie glitt mit dem Kopf tiefer, ergriff plötzlich seine rechte Hand und küßte sie. Schnell zog er sie zurück, blickte sich nach allen Seiten um, aber sie waren allein. Tief atmete er auf.
»Ich komme aus Eriwan«, sagte sie. »War dort an der Oper die Erste Flötistin im Opernorchester.«
»Blond und aus Eriwan?« fragte Abukow
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