Ein Kreuz in Sibirien
zusammen das Hospital. Vor der großen Magazinhalle luden die Frauenkolonnen noch immer die Säcke und Kisten aus und schleppten sie ins Haus. Und auch die gemeinen Zurufe gab es noch immer und die an den Barackenwänden wartenden, lauernden Raubtiere mit ihren gierigen Augen. Ein paar Rotarmisten patrouillierten hin und her, die langen Lederpeitschen in den Fäusten.
»Ich werde predigen, daß die Lust des Fleisches nicht das Höchste im Leben ist«, sagte Abukow heiser.
»Das ist hier der falsche Text, Väterchen. Man wird Sie nicht verstehen.«
»Habt ihr nichts anderes in Kopf und Herz?«
»Nein, nichts anderes«, sagte Lilit Iwanowna. Es war kein Funken Scham in diesen Worten, es war alles so natürlich. »Nichts sonst … Wovon soll man sonst träumen?«
In Kommandant Rassims Männerlager JaZ 451/1 wurde der Montagmorgen voller Angst erwartet wie ein Weltuntergang.
Die Selektion der Kranken durch die Tschakowskaja begann.
Auch Rassim wollte dieses Ereignis nicht versäumen, stand gegen seine Art schon beim Morgengrauen auf und kam dennoch zu spät, was ihn maßlos ärgerte. Jachjajew war schon früher da und stand im Vorraum des Hospitals herum. Sein dicker Körper schien voll erregter Aktivität. Den ersten Krach hatte der politische Kommissar schon mit Professor Polewoi hinter sich. Denn der vor seiner Verurteilung so prominent gewesene Sträfling Polewoi war die halbe Nacht auf den Beinen gewesen und hatte nicht nur den Kranken im Haus warmes Salzwasser zu trinken gegeben. Nun wanden sie sich alle in den Betten, kotzten Blechschüsseln und Eimer voll. Im Hospital schallte aus jedem Zimmer das Würgen und Spucken, das Ächzen und Stöhnen, und Jachjajew war bei seinem Eintritt geradezu zurückgeprallt.
»Was ist denn das?« hatte er gebrüllt. »Was ist hier los?«
»Vielleicht eine Epidemie«, hatte Polewoi gerufen und rannte mit vollen Eimern heraus. »Eine geheimnisvolle Infektion. Die Luft ist voller Bakterien.«
Jachjajew, wie jeder Russe mit einer höllischen Angst vor Ansteckung gesegnet, blieb entsetzt im Vorraum stehen und schrie nur zurück:
»Wenn das wieder einer deiner schmutzigen Tricks ist, Georgi Wadimowitsch, wird dafür gesorgt, daß du morgen die Bäume impfst …«
Auch Rassim stutzte, als er den Lärm aus den Hospitalzimmern hörte, und blickte Jachjajew fragend an.
»Sie kotzen!« Jachjajew verzog sein Gesicht voller Ekel. »In jedem Zimmer. Alles kotzt. Auch viele andere im Lager. Benehmen sich, als müßten ihnen die Därme aus dem Hals kommen.«
»Und warum?« brüllte Rassim. Er ahnte Komplikationen, und wie immer versuchte er seine Sorge mit seiner ungeheuren Bullenstimme zu verdrängen.
»Wer weiß das? Bakterien?«
»Hier? Eine Infektion?!«
»Möglich. Warum nicht?«
»Das würde bedeuten, daß mein Lager eine einzige Isolierstation wird!« Rassim holte tief Luft, blähte den mächtigen Brustkorb und wurde hochrot im Gesicht. »Wo ist die Tschakowskaja?« Seine Stimme wurde gewaltig. »Larissa Dawidowna! Hierher!« Unsinnig war es natürlich, so zu schreien, wie es auch völlig sinnlos war, einer Tschakowskaja solche Befehle zu geben. Jachjajew hob die fetten Schultern, Rassim schnaufte wie ein wilder Eber, schlug die Fäuste zusammen und rannte den linken Gang hinunter zu Larissas Wohnung. Er sah noch, daß jenseits der Vorhalle Dr. Dshuban Owanessjan verstört, aber elegant wie immer, im wie maßgeschneiderten Kittel (er war maßgeschneidert in der Lagerschneiderei!) in einem der Zimmer verschwand, begleitet von einem wild gestikulierenden Professor Polewoi.
Diesmal klopfte Rassim an Larissas Tür und wartete, bis er ihre Stimme hörte. »Wer da?«
»Rassul …«
»Kommen Sie rein, Genosse Oberstleutnant.«
Die Tschakowskaja rumorte nebenan in ihrem Schlafzimmer herum, als Rassim in das Wohnzimmer und zum Fenster ging. Draußen dämmerte der neue Tag herauf. Der Himmel war in rotgelbe Streifen zerrissen. Auf den Baumkronen des Waldes lag ein violetter Dunst. Ein ergreifendes Farbspiel, das fast plötzlich, als wenn man eine Lampe ausknipst, verlöschen würde, sobald die Sonne über den Horizont brach, ein paar Minuten goldgelb, dann weißlich und gnadenlos. Der diesjährige Taigasommer war ein Elend. Selbst verrunzelte chantische Pelztierjäger, die ja nun wirklich mit der grandiosen Natur in Einklang lebten, konnten sich nicht erinnern, einen solchen heißen Sommer erlebt zu haben. »So wird auch der Winter werden«, sagten sie. »Richtet euch ein auf
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