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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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festgewalzten und mit Kies befestigten Straßen, einen Sportplatz und drei fabrikähnliche Bauten. Inmitten dieser Häusersammlung stand auf einem großen Platz ein hoher, hölzerner Turm, auf dessen Spitze eine rote Fahne flatterte. Auf dem Dach eines zweistöckigen Hauses, das offensichtlich die Verwaltung beherbergte, leuchtete der rote Sowjetstern in den Himmel. Genau wie auf dem Moskauer Spasskiturm leuchtete dieser Stern auch des Nachts. Er war der ganze Stolz des Kommandanten Oberst Belgemir Valentinowitsch Kabulbekow. Ein Kasache war er, dieser Kabulbekow, klein, fast zierlich, mit bemitleidenswürdigen krummen Reiterbeinen, die er aber keineswegs versteckte, sondern im Gegenteil durch das ständige Tragen von Reithosen und Stiefeln noch betonte. »Ich bin auf dem Pferd geboren«, sagte er immer, wenn er die Blicke auf seine krummen Beine bemerkte. »Meine Mutter stieg nur aus dem Sattel, um mich hinausschlüpfen zu lassen. Dann wickelte sie mich in ein Tuch, schwang sich wieder in den Sattel und ritt meinem Vater nach, der gar nicht gemerkt hatte, daß ich geboren war. So ist das bei uns!«
    Und noch etwas erfüllte Kabulbekow mit großem Stolz: Alles, was man sah – die gewaltige Rodung, die Leitungen, die Häuser und anderen Bauten, die Werkstätten und Fabriken – hatten ›seine Weiber‹ gebaut. Natürlich waren Fachleute gekommen, Maschinensetzer, Ingenieure, Elektriker, Wasserbauexperten: Aber die meiste Arbeit, vor allem die gröbste und dreckigste, das Mauern und Sägen, Graben und Hämmern, sogar das Schweißen und Montieren, hatten die Frauen getan. Zuerst waren die Holzfäller-Brigaden gekommen. Dann entstand das eigene Sägewerk. Aus der Zeltstadt wurde die Barackenstadt mit Werkstätten und Wäscherei und einem kleinen Hospital. Im ganzen Aufbau war es der normale Typ einer neuen sibirischen Siedlung. Ungewöhnlich war es eben ›nur‹, daß zuerst fünfhundert, später achthundert und jetzt zweitausend Frauen diesen Fleck verzweifelten Lebens in die Wildnis setzten.
    Zweitausend Frauen, bewacht von einer einzigen Kompanie Rotarmisten und zwanzig Aufseherinnen. Was gab es schon zu bewachen? Wer in Tetu-Marmontoyai eingeliefert worden war, lebte von da an jenseits der Menschen in einer eigenen Welt. Auf einer Insel inmitten grüner Einsamkeit. Die einzigen, denen man ab und zu begegnete, waren Herden wilder Rentiere oder herumstreifende Pelztierjäger vom Stamme der Chanten und Mansen. Sie verdrückten sich schnell wieder in den Wald, wenn sie die Frauenkolonnen sahen. Sie lebten frei und ungehindert, aber sie wußten aus den Pelzsammelstellen in der Taiga, den Faktoreien, daß es Strafgefangene waren, Verbrecherinnen, wie man ihnen sagte, und daß man gut daran täte, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Der Ärger, den man bekommen konnte, war größer als das kurze Vergnügen, solch ein Weibchen im Moos oder Farnkraut zu lieben.
    Die Transportkolonne wurde mit Sehnsucht erwartet. Ein paarmal fuhren die Wagen an Arbeitsbrigaden vorbei. Zum erstenmal sah Abukow nun diese Frauen, jetzt im Sommer in weiten, leichten gelbgrünen Hosen und dünnen Blusen. Einige arbeiteten sogar mit nackten Brüsten. Sie fällten Baumstämme für das Sägewerk, transportierten sie mit Traktoren ab, beluden die gewaltigen Tieflader, lenkten diese Motorkolosse, rissen die Stümpfe und Wurzelballen aus und planierten den Boden. Zehn Stunden am Tag taten sie nichts anderes als ihre männlichen Leidensgenossen. Nur einen Vorteil hatten sie: Die Norm war nicht so hoch, das Essen reichlicher, und sie waren – man glaube es oder nicht – zäher als die Männer. Außerdem kamen sie nicht wie die männlichen Sträflinge schon halbtot nach Sibirien, zermürbt von monatelangen Verhören und Folterungen, dem Aufenthalt in Irrenhäusern, von Elektroschocks und medikamentösen Behandlungen. Nein, die Frauen hatte man verhaftet, verurteilt und einfach abgeschoben nach Sibirien; manche so schnell, daß sie erst begriffen, wo sie waren, als man ihnen eine Axt oder eine Motorsäge in die Hand drückte und sie hinaus in den Urwald karrte.
    »Sie sind wie die Katzen«, sagte Oberst Kabulbekow einmal, »zäh, unberechenbar, tückisch und gefährlich sanft. Man begreift sie nie, die Weiber!«
    Die Wagenkolonne hielt vor dem Steingebäude mit dem Sowjetstern auf dem Dach und wurde sofort umringt von unzähligen Frauen. Sie hatten Lagerdienst, fegten die Straßen und betreuten die Blumengärten, mit denen die Baracken umgeben waren. Oder

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