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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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vorsichtig.
    »Meine Mutter stammt aus Moldawien. Sie ist hellblond.« Der Kopf lag wieder an seiner Schulter. »Warum vertraust du mir nicht, Väterchen? Wir alle wissen, daß du einmal kommen würdest.«
    »Wer ist: Wir alle?«
    »Die Gemeinde von Tetu-Marmontoyai.«
    »Mein Gott! Ihr habt eine Gemeinde? Das wußte ich nicht, das weiß keiner.«
    »Darauf sind wir stolz, Väterchen.« Lilit Iwanowna hob den Kopf. Ihre braunen Augen, die sie vom Vater hatte, glänzten fiebrig. »Neunundvierzig Frauen sind wir … von zweitausend. Das ist wenig.«
    »Schon ein Gebet bringt Gottes Gegenwart«, sagte Abukow leise und legte seine Hand segnend auf ihre blonden struppigen Haare. »Wer hat euch gesagt, daß ich gekommen bin?«
    »Wir wußten es.« Lilit löste sich von Abukow und lehnte sich gegen die weiße Lackwand. Ihr Gesicht glühte jetzt vor innerer Erregung. »Sie rief uns sofort an. Am Telefon hatte gerade Margarita Nikolajewna Lusatkaja Dienst und fiel fast auf die Erde vor Freude. Und sie kann was vertragen – sie ist Schauspielerin.«
    »Wer hat angerufen?« fragte Abukow.
    »Sie … die Ärztin Tschakowskaja …«
    »Larissa Dawidowna?«
    »Ihre Stimme soll wie Glocken geklungen haben, sagt Margarita. Und sie hat gesagt: ›Wartet ab, bereitet alles vor, macht euch auf ein Fest bereit: Victor Juwanowitsch wird auch zu euch kommen. Den Kühlwagen Nummer 11 fährt er.‹«
    »Das war unvorsichtig«, sagte Abukow betroffen. »Welch ein Leichtsinn! Weiß man denn, ob ich immer die Nummer 11 fahre? Man kann auch wechseln.«
    »Damit haben wir gerechnet. Als die Kolonne ankam, haben wir die Fahrer von Nummer 11 genau beobachtet. Der eine, kleine Gelbe konnte es nicht sein, den kennen wir, es ist der geile Safar Witaliwitsch – aber da war der Neue gekommen, groß und blond, so wie ihn uns Larissa Dawidowna beschrieben hat. Nur Sie konnten das sein, Väterchen, kein anderer. Was hat sie gesagt: ›Wenn man ihn sieht, scheint plötzlich in der Nacht die Sonne …‹«
    »Das hat sie gesagt?« Abukows Stimme klang wie verstaubt.
    »Genau mit diesen Worten.« Lilit Iwanowna strahlte ihn an. »Und es ist richtig. Wie lange bleiben Sie bei uns, Väterchen?«
    »Man sagte uns: zwei Tage. Wir sollen mit den anderen neun Wagen Balken und Holzplatten mitnehmen.«
    »Werden Sie mit uns eine Andacht halten?«
    »Wenn es möglich ist.« Abukow faltete die Hände, und sofort glitten auch Lilits Hände ineinander. »Ich kenne hier noch nichts, ich will euch nicht in Gefahr bringen.«
    »Anastassija Lukanowna Lasarjuk wird für alles sorgen. Keine Sorge, Väterchen. Uns überrascht man nicht.«
    »Wer ist Anastassija?«
    »Die Vorbeterin unserer Gemeinde. Aus Moskau kam sie hierher, vor zwei Jahren. Man sagt, sie sei die Geliebte eines Ministers gewesen und nach Sibirien verbannt worden, weil sie zuviel gehört habe. Sie spricht nicht darüber, und keiner fragt sie danach. Eine von Hunderttausenden ist sie, eine ›tote Seele‹, eine von uns. Nur nachts träumt sie manchmal von einer Datscha mit kunstvoll bemalten Holzwänden und einer Troika, die mit ihr durch einen Schneewald fährt.«
    »Du arbeitest im Hospital?«
    »Ich helfe im Labor. ›Wer Flöte blasen kann, kann auch durch Glasröhrchen pusten‹, hat der vorige Lagerarzt, Dr. Lessiwitz, zu mir gesagt. Ein lustiger Mensch. Er starb an Krebs; drüben am Wald liegt sein Grab mit einem großen Grabmal aus Holz. Wir haben auch vier Bildhauerinnen im Lager.« Lilit stieß sich von der Wand ab. Hinten im Gang klappte eine Tür, eine ältere, grauhaarige Frau erschien – auch sie im weißen Kittel – und verschwand wieder drei Türen weiter. Vorher sah sie Abukow kritisch an, und Abukow deutete eine leichte Verbeugung an. »Die Chefärztin. Kein Vergleich zu Dr. Lessiwitz. Spricht kaum, lacht nie und ist sehr streng bei ihren Selektionen. War auch einmal Häftling, oben in Magadan, in den Kohlegruben. Ist erst neununddreißig Jahre alt und sieht aus wie sechzig. Anastassija sagt, sie komme nicht darüber hinweg, daß neben ihr Hunderte Kameradinnen starben, sie aber leben blieb. Man weiß gar nichts über sie. Aber Oberst Kabulbekow küßt ihr jedesmal die Hand, wenn er sie begrüßt. Erst haben wir darüber gelacht, jetzt verstehen wir ihn.« Lilit sah Abukow mit ihren leuchtenden braunen Augen voll tiefer Freude an. »Hier ist alles anders als in den anderen Lagern, Väterchen. Hier ist eine Hölle, in der gesungen wird.«
    Abukow nickte, wandte sich ab, und sie verließen

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