Ein Kreuz in Sibirien
gehen, Genosse Kommandant«, sagte die Tschakowskaja kühl. »Die Transporter fahren in einer Stunde auf. Bis dahin muß ich die Krankmeldungen durchgearbeitet haben. Es liegen dreihundertundvierundzwanzig vor …«
»Wieviel?« Rassim zuckte hoch und begann wieder zu brüllen. »Alles Kotzende? Doch eine Epidemie? Ich sperre sofort das Lager!«
»Sie können sich selbst überzeugen, Rassul Sulejmanowitsch …«
Rassim zögerte. Der Gedanke, sich unter einige hundert Infizierte zu begeben und dann selbst angesteckt zu werden, war kein Anlaß, nun besonders heldenhaft zu sein. Man hat eine große Aufgabe für das Vaterland zu erfüllen. Der Auftrag, die Trasse für die Gasleitung auszuheben, ist eine gewaltige vaterländische Tat. Das ganze Projekt käme ins Stocken, wenn die Kraft eines Rassim durch einen dummen Virus gebrochen würde und der Motor dieses verdammten Straflagers einen Riß bekäme.
»Ich erwarte Ihre Meldung, Genossin Chefärztin«, sagte er knapp und stand vom Sofa auf. »Es ist nicht nötig, daß ich mir einige hundert Kotzende ansehe.«
Die Tschakowskaja lächelte ihn an. Er verstand dieses verfluchte maliziöse Grinsen der rot geschminkten Lippen, und wäre sie ein Mann gewesen, hätte er jetzt voll in das Gesicht hineingeschlagen. So straffte er sich nur, stieß die Tschakowskaja bewußt flegelhaft an der Tür zur Seite und verließ als erster ihre Wohnung.
Im Vorraum stand noch immer Jachjajew und atmete auf, als er die Lagerärztin und den Kommandanten sah.
An diesem Morgen zeigte sich, daß niemand Larissa Dawidowna Tschakowskaja wirklich kannte. Man kannte nur ihren Körper, ihre Stimme, ein paar geistige Ansichten – aber ihr Herz, ihre Seele, ihre Gedanken kannte man nicht.
Zwei Tage lang hatte das Lager Zeit gehabt, sich von Rassims Strafaktionen zu erholen. Die 1.200 Sträflinge hatten – gegen alles Geschrei und Gezeter des Magazinverwalters Gribow, der am Sonntagabend so mitgenommen war, daß er sich mit Gallenschmerzen bei Dr. Owanessjan meldete – jeweils die anderthalbfache Portion Essen erhalten. Vor allem aber hatte die Tschakowskaja angeordnet, daß die Lagerinsassen mit viel Eiweiß versorgt wurden, um Kraft in die Muskeln zurückzubringen und den totalen körperlichen Verfall aufzuhalten. Gribow hatte seine gesamten Quarkvorräte aus dem großen Kühlhaus opfern müssen und weinte fast, als er die Wannen hinüber zur Küche tragen ließ, wo sie in die Barackenportionen aufgeteilt wurden.
»Brot und Quark!« zeterte Gribow und rang die Hände. »Morgen gibt's vielleicht Schokoladenpudding mit Eiercreme! Wo sind wir denn hier? Na, frage ich, wo denn? Im Hotel Rossija oder im Kurhaus Sokol in Sotschi? Sind das denn nicht alles Gauner und Verbrecher und Volksverräter? Oder sehe ich das falsch? Habe ich andere Linsen in den Augen? Da sitzen sie herum und fressen dicke Quarkbrote und schmatzen wie die Säue!«
Aber es zeigte sich, daß es sinnvoll gewesen war, die Anordnungen der Tschakowskaja zu befolgen und ihr nicht zu widersprechen. Die Männer erholten sich in diesen zwei Tagen sichtlich gut, wenn man es als gut bezeichnen kann, daß sie wieder auf recht gehen konnten und nicht auf allen vieren herumkrochen wie Tiere.
Bei den Kranken zeigte es sich merkwürdigerweise, daß nur die Politischen von dem geheimnisvollen Virus befallen waren, dazu einige wenige Kriminelle, vor allem Genossen, denen man Wirtschaftsverbrechen vorwarf, Unterschlagungen oder Fälschungen der Soll-Listen. Und dann waren da noch ein paar ganz Arme aus den Reihen der Bibelforscher und der Baptistensekte, die in Sowjetrußland als besonders staatsgefährlich angesehen wurden. Die anderen Strafgefangenen, vom kleinen Dieb bis zum Totschläger, vom Straßenräuber bis zum Sexualstraftäter, schienen von der plötzlichen Krankheit verschont geblieben. Sie starrten fassungslos auf ihre sich krümmenden, würgenden und kotzenden Kameraden, begriffen dann aber sehr schnell die Lage und suchten verzweifelt nach einer eigenen Methode. Man einigte sich, zunächst die Wirkung des neuen ›Virus‹ auf die Tschakowskaja abzuwarten.
Zusammen mit Dshuban Kasbekowitsch, Professor Polewoi, dem früheren Chirurgen und jetzigen Sträfling Wladimir Fomin und zehn Sanitätern betrat die Tschakowskaja das Lager. Schon das verhieß nichts Gutes – einen solchen Aufwand hatte sie bei noch keiner Selektion betrieben. Mit weit ausgreifenden Schritten ging sie zur ersten Baracke, trat die Tür ganz gegen die Wand,
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