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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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– dem Blinden stieg es hoch, da war nichts mehr zu bändigen, nichts mehr zu kontrollieren. Es war ihm unmöglich, seine Gefühle zu unterdrücken bei diesem Anblick, den er seit über einem Jahr nicht mehr gehabt hatte.
    Der ›Blinde‹ überlebte die ›Sonderbehandlung‹ im Lager nur vier Monate, dann wurde er begraben. Ein Skelett nur noch, zerbrochen von der Arbeit an den eisenharten Baumstämmen der Taiga, in die er zehn Stunden lang hineinhacken mußte. Seitdem gehörte die Methode der Migulinskaja zur Diagnose der Arbeitsfähigkeit. Nur wenige, die sich krank meldeten, überstanden die Prüfung der Küchenhilfe Anna.
    All so etwas war von der Tschakowskaja unbekannt. Morosow war geneigt, ihr voll zu vertrauen, sowenig er sie kannte. Wer kannte sie überhaupt? Ein Eispanzer umgab sie, man wußte nur von ihrem Onkel im Zentralkomitee, von dem einflußreichen Unbekannten im Kreml. Aber auch das waren nur Nebel, ebenso ungreifbar die Luft, die man spürte und riechen konnte, von der man wußte, die man jedoch nicht sah.
    »Bevor Sie kamen, Larissa Dawidowna«, sagte Morosow und drehte sich vom Fenster weg, »habe ich angeordnet, daß die Brigaden aus dem Lager heute nicht an den Drainagegräben des Sumpfes arbeiten und auch nicht an den Knüppeldämmen. Sie sind eingesetzt zur Planierung der neuen Straße, die zur Trasse II führt. Diese Trasse durchzieht ein Seengebiet von dreiundvierzig Tümpeln. Eine Miststrecke, meine Liebe! Aber einen anderen Weg gibt es nicht. Im Sommer schwimmt alles, im Winter ist es blankes Eis. Die ganze Leitung muß auf Stützen verlegt werden, und jede Stütze muß ein Kälteaggregat haben, um den Boden im Sommer künstlich zu vereisen – sonst sinkt alles ab und die Rohre brechen.«
    »Von Technik verstehe ich nichts, ich möchte meine Männer sehen.«
    »Fahren wir! Einen Aufruhr wird das geben: Die Genossin Chefärztin am Einsatzort.« Morosow blieb stehen, ging noch mal zum Fenster, riß es wieder auf und atmete tief, als sei die hereinströmende, faulig riechende Luft ein wahrer Balsam. »Weiß Rassim von Ihrem Ausflug?«
    »Er hat mir einen Jeep und Leutnant Sotow geliehen.«
    Morosow hob die Schultern. Das tat er immer, wenn ihn plötzlich etwas erregte. »Wo ist Sotow jetzt?«
    »Ich habe ihn weggeschickt. Wenn ich ein Hündchen brauche, hole ich mir eines aus Surgut oder Tjumen.«
    »Sie mögen Sotow nicht, Larissa Dawidowna?«
    »Eher würde ich Wanzen essen, als ihn länger als wenige Minuten in meiner Nähe zu ertragen. Rassim ist ein Satan – aber mit Hirn, Sotow ist nur sein geistloser Arm. Rassim würde selbst bei einem scharfen Verhör niemals die Beherrschung verlieren, Sotow dagegen erfreut es bis in die tiefste Seele, wenn unter seinen Händen Menschen schreien und wimmern.«
    »Larissa, Sie führen gefährliche Reden, wissen Sie das?«
    »Nur Sie hören sie, Wladimir Alexejewitsch.«
    »Danken Sie Gott dafür.«
    »Gott?« Das Gesicht der Tschakowskaja war plötzlich gespannt in allen Muskeln. »Warum sagen Sie jetzt Gott? Was haben Sie mit Gott zu schaffen?«
    Morosow erwiderte ihren Blick. Er spürte ein heftiges Unbehagen. Sie ist doch gefährlich, durchfuhr es ihn. Mein Vertrauen flog zu weit.
    »Für Sie gibt es keinen Gott, ist es so, Larissa Dawidowna?« sagte er. »Wenn man das Leben auf Erden betrachtet, kann man das annehmen. Sie haben recht.«
    »Ich glaube an Gott!« sagte die Tschakowskaja. Sie sagte es laut und fest, und Morosow verfluchte sich, weil er das Fenster geöffnet hatte und man sie bis auf die Straße hören konnte. Sein Kopf zog sich tief in die Schultern.
    »Sie … Sie auch? Larissa, jetzt sind wir Verschworene. Aneinandergekettet sind wir. O Himmel, seien Sie vorsichtig. Wer weiß das noch?«
    »Im Lager haben wir eine Gemeinde.«
    »Eine richtige Gemeinde?« Morosow warf nun doch wieder das Fenster zu. »Undenkbar.«
    »Wir beten, wir sind leise, wir halten Gottesdienst.«
    »Unter Rassims Augen?!«
    »Gewissermaßen. Wir treffen uns heimlich in einer Werkhalle der Schreinerei.« Die Tschakowskaja holte tief Atem. Morosowist einer der Unsrigen, dachte sie beglückt. Der Leiter des Abschnittes Nowo Wostokiny gehört zu uns. Herr über 147 Kilometer Erdgastrasse, über eine Armee aus Kränen, Baggern, Raupenschleppern und anderen Maschinen. Herr über tausend Strafgefangene, die diese 147 Kilometer entwässern, aus der Taiga schlagen, planieren, die Stationen bauen. Mehr noch als Rassim Herr über Leben und Tod des Lagers JaZ

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