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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wahr?«
    »Nein!« Sie stellte das Glas auf den Tisch und sah Morosow herausfordernd an. Er empfand das jedenfalls so. »Ich bin gekommen der Menschen wegen.«
    »Es ist gut, daß Sie es sagen, Larissa Dawidowna.« Er trat ans Fenster, schloß es und verriegelte es sogar. Zudem senkte er auch noch die Stimme – Barackenwände sind nicht die dicksten. »Pflichtauffassung und Pflichterfüllung sind zwei hervorragende Tugenden, Fundamente unseres Aufbaues, gewiß – aber man kann sie auch pervertieren. Larissa, was haben Sie mir da an Arbeitsbrigaden herübergeschickt? Was soll ich mit diesen schwankenden Mumien? Sie müssen sich auf die Schaufeln und Hacken stützen, statt sie zu gebrauchen. Sie liegen herum wie Lumpenbündel, und kein Tritt, keine Drohung, kein Gebrüll bringt sie auf die Beine. Die Wachtposten sind verzweifelt …«
    »Es sind Rassims Soldaten, meine nicht«, sagte sie. »Und es ist die Ware, die Rassim verdorben hat, nicht ich!«
    »Ware! Larissa Dawidowna, was ist los mit Ihnen? Warum haben Sie diese Elenden zu mir gejagt?«
    »Um sie aus dem Lager zu entfernen und vor Rassim zu schützen.« Sie lehnte sich gegen die mit Karten und Zeichnungen vollgehängte Wand und blickte an die Decke zu dem sich drehenden Ventilator. »Das ist auch die Antwort auf Ihre Frage, warum ich zu Ihnen gekommen bin. Ich möchte Sie bitten, Wladimir Alexejewitsch, für die nächste Woche das Soll zu halbieren und die Männer zu schonen, soweit das möglich ist. Sie können es! Hier redet keiner Ihnen hinein. Im Lager dagegen ist es unmöglich. Da regiert Rassim wie ein neuer Tatarenkhan und würde sich ein zermürbendes Arbeitsprogramm ausdenken. Und vergessen Sie Jachjajew nicht – er kocht über vor Teufeleien wie ein zu voller Suppentopf.«
    »Wenn ich ihn sehe, schmecke ich Galle.« Morosow wandte noch immer der Tschakowskaja den Rücken zu. »Ein einziger Schleimbeutel, dieser Mensch.«
    »Welch ein herrlicher Vergleich!« sagte die Tschakowskaja anerkennend.
    »Fahren wir hinaus in das Gebiet, das für die offizielle Besichtigung gesperrt ist«, sagte Morosow nach einigem Zögern. Man sollte ihr vertrauen, dachte er; es ist nie bekannt geworden, daß sie anders gehandelt hat als korrekt. Natürlich, auch sie tut, was man von ihr erwartet, aber sie ist nicht die Schlechteste. Ganz andere Weiber im weißen Kittel kenne ich da; zum Beispiel die Ärztin im Lager Uporowo am Tobol, die kleine dicke Pikalowa, die ihre schwarzen Haare als Zopf um den Kopf gerollt trug und deren Atem immer nach saurer Milch stank. Mit einer Lederknute ging sie herum, kommandierte: »Die Hosen runter!« und »Nach vorne bücken!« und schlug dann auf die ihr entgegengestreckten Hinterteile: »Arbeitsfähig! Arbeitsfähig!« – Oder die Genossin Migulinskaja, ein Weib, lang wie ein Meßstab, fast zwei Meter; im Lager Nazarowo war sie, nordöstlich von Tjumen. Wer sich bei ihr krank meldete, der wurde – selbst wenn man ihn liegend transportieren mußte – in ein Zimmer gebracht, in dem die Küchenhilfe, eine Freigelassene, nackt herumlief und den Kranken reizte. Richtete sich bei dem Armen trotz aller Schwäche etwas auf, brüllte die Migulinskaja sofort: »Was sieht man da? Will krank sein bis ins Knochenmark, aber Kraft genug zum Vögeln? Arbeitsfähig! Weg mit dem Schwein.« Die Migulinskaja war stolz auf ihre Selektionen. Auf die Unfehlbarkeit des ›Schwanzometers‹, wie sie ihre teuflische Untersuchungsmethode nannte, war sie gekommen, als im Lager ein Simulant eingeliefert wurde, der angab, blind zu sein. Er wurde von Moskau direkt nach Tjumen verlegt und durchlief Hunderte von Untersuchungen bei Fachärzten. Er widerstand den raffiniertesten Tests, wurde durch niedrige Türen geführt und knallte mit dem Kopf gegen den Balken. Man ließ ihn eine Woche lang hungern und stellte dann in einem Meter Entfernung dicke Schinkenbrote vor ihm hin. Man führte ihn an eine Mauer, baute ein Peleton vor ihm auf, als wolle man ihn erschießen – nichts half: Mit blicklosen Augen starrte er ins Leere, ohne Reaktion, ohne die geringste Reflexion, ohne einen Hauch von Angst, ohne ein winziges Zucken der Mundwinkel. Da gab man es auf, bescheinigte ihm Blindheit und schickte ihn nach Tjumen, in das Lager Nazarowo.
    Die Migulinskaja betrachtete den Blinden, verzog spöttisch den breiten Mund und holte die Freigelassene, das Mädchen Anna mit den dicken Brüsten und dem ungewöhnlich breiten und groblockigen Pelz zwischen den Beinen. Und siehe da

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