Ein Kreuz in Sibirien
Platz anbieten? Nicht gemütlich ist es hier. Ein Zimmer voll Arbeit. Ich habe nur einen harten Stuhl.« Er faltete einige große Karten und Konstruktionspläne zusammen. »Welch ein heißer Tag! Was wollen Sie trinken? Tee, Fruchtsaft, Birkenwein, Limonade oder einfach nur Wasser?«
»Fruchtsaft.«
»Die Genossin Tichonowa wird ihn besorgen.«
»Ach, das macht sie auch?« Ihre Stimme klang etwas spitz, aber Morosow hörte nicht so genau hin. Er nickte sogar.
»Hier helfen wir uns alle untereinander.«
»Begreiflich. Einspringen in der Not wird eine Spezialität der Genossin Tichonowa sein.«
Morosow begriff diese Bemerkung nicht so genau; er war schon aus dem Zimmer gelaufen, hatte nebenan etwas durch eine offenstehende Tür gerufen und kam nun zurück. »Eisgekühlt werden Sie den Saft bekommen, Larissa Dawidowna«, sagte er und überlegte noch immer: Was will sie hier? In Uniform? Neugier ist es nicht … wer soll dir das glauben, mein Schwänchen? »Wir haben einen Kühlschrank hier, seitdem wir unsere eigene Trafostation gebaut haben. Sind unabhängig vom Strom aus Surgut! Ah, da kommt der Saft.«
Novella Dimitrowna kam ins Zimmer. Sie sah genauso aus, wie die Tschakowskaja es erwartet hatte, um sie abgrundtief hassen zu können: Sie trug kurze Shorts, die ihr schönes, rundes Gesäß umschlossen. Die langen Beine waren nackt und braun gebrannt und staken in hochhackigen Schuhen. Die Bluse war eine Provokation und nur bis zum dritten Knopf zugeknöpft, um einer billigen Phantasie nachzuhelfen, die beim Anblick des Brustansatzes und der durch den Stoff scheinenden Brustwarzen angeregt wurde. Das blondrote Haar trug sie offen, in weichen Wellen bis auf die Schulter fallend. Kurz: Jeder Mann mußte sie schön finden und spürte unter Garantie, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Und Novella wußte das genau und tänzelte aufreizend herein, das Glas in der Hand balancierend.
»Danke«, sagte die Tschakowskaja grob, als sie es entgegennahm.
»Noch einen Wunsch, Genossin Chefärztin?« fragte Novella Dimitrowna freundlich.
Genug, dachte Larissa. Ins Gesicht möchte ich dich schlagen, mitten auf die fröhlichen blauen Augen. Die Haut sollte man dir zerkratzen und dir die Spitzen deiner Brüste abdrehen! Den Kopf scheren … wie du wohl aussehen magst ohne Haare, mit einer glatten Kopfhaut? »Nein!« sagte sie laut. Sie wartete, bis die Tichonowa wieder gegangen war, nahm dann einen Schluck des kalten Fruchtsaftes – es war Kirschsaft, dunkelrot und würzig – und trat ans Fenster. In den Gassen des Barackenlagers wimmelte es von Menschen. Arbeiter, Ingenieure. Dazu Motorräder, ein paar Traktoren. Über den Dächern, weit im Hintergrund, sah sie die stählernen Arme der großen Verlegekräne. Riesige, im Sonnenglast flimmernde Ungetüme. »Werden Sie mich herumführen und alles zeigen, Wladimir Alexejewitsch?«
»Eine offizielle Führung, Genossin, oder eine außer Plan?«
»Wo liegt da der Unterschied?«
»Offiziell sehen Sie die Wunderwerke der Technik, die wir hier einsetzen. Die Schwimmbagger Jamal und Samotlor. Den Spezialsumpfschlepper Tjumen. Die phantastische Rohrschweißanlage SEWER, die so präzise die Rohre aneinanderfügt, daß wir bei den elektronischen Kontrollen bisher keinerlei Reklamationen hatten. Die Verlegekräne. Und der Genosse Jelankin, der das Schweißungeheuer SEWER betreut, wird Ihnen erzählen, daß wir mit diesem Gerät den Amerikanern überlegen sind. Wissen Sie, daß man bei Inbetriebnahme der amerikanischen Ölpipeline in Alaska, die man ein Jahrhundertwerk nannte, fast 30.000 undichte Schweißstellen entdeckte? Ein Millionenschaden! Bei uns nicht möglich, Genossin! Nicht auszudenken, wenn in meinem Abschnitt – und das sind immerhin 147 Kilometer – auch nur zehn undichte Stellen aufträten! Ich müßte die Sträflingskleidung anziehen …«
Es war die längste Rede, die Morosow je gehalten hatte. Jetzt schien er erschöpft und wartete darauf, daß die Tschakowskaja endlich den Grund ihres plötzlichen Erscheinens an der Trasse offenbarte. Solange Morosow in Sibirien arbeitete – und er kannte ein gutes Stück davon –, hatte er noch nie einen Lagerarzt am Arbeitsplatz der Sträflinge gesehen.
»Das war nun offiziell«, sagte Larissa Dawidowna und trank einen zweiten Schluck Kirschsaft. »Und wie sieht das außer Plan aus?«
»Weniger faszinierend und patriotisch.« Morosow schüttelte den Kopf. »Aber Sie sind doch wegen der grandiosen Technik gekommen, nicht
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