Ein Kreuz in Sibirien
…«
Abukow schlug schnell das Kreuz über ihre Köpfe und lehnte sich dann gegen die Tür, um vor Überraschungen gesichert zu sein. »Viel Neues und Großes wird hier geschehen«, sagte er. »Aber ihr alle müßt mithelfen. Allein kann ich das nicht. Wundert euch nicht über das, was ihr in den nächsten Wochen hören und sehen werdet. So verrückt alles auch aussehen mag – es ist ein Weg zu Gott!«
Abukow blieb eine Stunde im Hospital. Man erzählte ihm, wie sein Vorgänger Pjotr, der an der Trasse arbeitete, heimlich Briefe mit Predigten für die Gemeinde in das Frauenlager geschmuggelt hatte; sie wurden nachts in der Versandhalle der Kleiderfabrik vor den neunundvierzig eingeweihten christlichen Insassen des Lagers verlesen, um dann sofort verbrannt zu werden. Jeden Sonntag hielt Anastassija Lukanowna Lasarjuk, die ehemalige Geliebte des Ministers, einen Gottesdienst ab, man betete zusammen, man sang leise die Lieder, begleitet von der aus einem Weidenast geschnitzten Flöte Lilits, die seltsam weich klang, fast wie eine gedämpfte menschliche Stimme. Nur der Segen fehlte den Gläubigen und das heilige Abendmahl.
Später hatte Abukow bei dem Verwalter Martynow und seiner Stellvertreterin gesessen, der Freigelassenen Olga Michaelowna Gasmatowa. Ein seltsames Paar war es, das nicht miteinander schlief, aber auf Gedeih und Verderb verbunden war, weil jeder von dem anderen so viel Untaten wußte, daß es für ein mehrfaches Lebenslänglich ausgereicht hätte. So führte die Gasmatowa zum Beispiel in ihren Verpflegungslisten neunzehn Frauen, die längst gestorben waren. Niemand kümmerte sich darum, denn was die Verwaltung meldete, abgezeichnet von dem ehrenwerten Genossen Martynow, wurde nie bezweifelt. Wo käme man auch hin, wenn man alles nachprüfen wollte. Lenins weiser Satz ›Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser‹ war eine Lebensweisheit, die von den meisten Beamten nicht berücksichtigt wurde. Oberst Kabulbekow ahnte von diesen Dingen nichts. Er lebte in der Vorstellung, daß sein Lager das beste und vorbildlichste der ganzen Sowjetunion sei. Die ›Abgangsmeldungen‹ wurden in der zentralen GULAG-Verwaltung abgeheftet; ein unnötiger bürokratischer Akt, denn niemand kümmerte sich darum, daß im tiefsten Sibirien der weibliche Häftling V/134.819 – Anna Jefimowna Sernjona – an einer Lungenentzündung gestorben war. Ihr ›Abgangsblatt‹ verstaubte sinnlos im Archiv.
»Sie fahren auch zu JaZ 451/1?« hatte Martynow gefragt, als er mit Abukow eine Zigarre rauchte. Zigarren waren der einzige Luxus, den sich Martynow gönnte. Zigarren aus Taschkent, blondfarbig, würzig riechend, als seien sie mit Parfüm fermentiert worden, aber so schwer im Nikotin, daß ein bestens trainierter Raucher zwei hintereinander vertragen konnte. Martynow schaffte sechs am Tag und begriff nicht, daß sein permanentes Magenleiden dort seine Wurzeln hatte.
»Das Männerlager ist meine Hauptstrecke«, war Abukows Antwort gewesen. »Eine wahre Hölle gegen das Paradies, das ihr hier habt.«
»Man hat gestern einen von ihnen erschossen.« Als Martynow das sagte, saß im Hintergrund die Gasmatowa an ihrem Schreibtisch und füllte die Listen für die neuen Lieferungen aus. Wunschlisten, die jedesmal in Surgut zur Erheiterung von Hand zu Hand gingen: 10.000 Damenbinden. 40.000 Tampons. 4.000 Schlüpfer. 360 Büstenhalter, Größen 2-8 sortiert. Einmal hatte – zur Freude aller Eingeweihten – der gelegentlich zu Späßen aufgelegte Magazinleiter Smerdow in Surgut dahinter geschrieben: Dreihundert Zehnerpackungen Präservative. Und siehe da: aus Tjumen, dem Zentrallager des ganzen Bezirks, wurden sie korrekt beliefert. Eine schriftliche Entschuldigung des Abteilungsleiters lag bei: »Mit dieser Lieferung nur 200 Packungen. Der Rest kommt in vierzehn Tagen nach. Anforderung an Swerdlowsk läuft. Bitte, entschuldigt, Genossen …« An diesem Tag besoff sich Smerdow, als feiere er Geburtstag.
»Wieso erschossen?« fragte Abukow und sah Martynow erschrocken an. »Wer hat geschossen?«
»Genaues weiß man noch nicht. Beim Holzfäller-Außenlager ist's geschehen. Einen der Halunken hat's erwischt, wie er auf Marianka lag. Ich weiß es vom Hospital, dort ist Marianka vor einer Stunde eingeliefert worden. Hat einen Schock, ist wie von Sinnen, schreit und zittert ohne Unterbrechung, reißt sich die Haare aus und bettelt: ›Erschießt mich auch! Tötet mich! Wie kann ich noch leben!‹ – Die Ratnowa hat ihr eine Spritze
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