Ein Kreuz in Sibirien
gegeben, jetzt schläft sie. Morgen wissen wir mehr. Sicher ist nur, daß man einen erschossen hat.«
Abukow nahm die fertigen Listen an sich, steckte sie in eine Tasche, die er umhängte, verabschiedete sich von Martynow und der Gasmatowa und ging wieder zur Kommandantur. Oberst Kabulbekow hatte seine Uniform ausgezogen, trug einen langen, gestreiften Bademantel aus Frotteestoff und saß in seinem Polstersessel, den er in Surgut für teures Geld gekauft hatte. Ein Wasserglas mit Wodka stand vor ihm auf einem geschnitzten Tischchen, das er aus seinem Urlaub in seiner Heimat Kasachstan mitgebracht hatte. Sehr ernst war er, starrte vor sich hin und nahm Abukow erst wahr, als dieser sich räusperte.
»Einen Toten hat es gegeben?« fragte Abukow.
»Sie haben es gehört, Victor Juwanowitsch?« Kabulbekow wedelte mit der Hand. »Was ist schon ein Toter? Wer spricht davon? Rassim am wenigsten – im Winter gehört das zu seinem täglichen Brot. Aber mir muß das passieren! Bürstet einer die Marianka und wird dafür erschossen! Soll man sich da nicht aufregen? Welch sinnloser Tod. Wäre ich Rassim, den Schützen schickte ich in Fesseln nach Tjumen. Aber nichts wird geschehen.« Er zeigte auf die Flasche mit Wodka: »Trinken wir, Victor Juwanowitsch, auch Sie haben es nötig. So eng liegen Freude und Tod beieinander; Sie wollen Theater spielen, und die anderen erschießen Menschen. Werfen Sie Ihren Plan in den Sumpf!«
»Dieser Tod macht mich noch stärker, Genosse Oberst!« hatte da Abukow mit fester Stimme gesagt. »Das Theater wird kommen …«
Der Genosse Smerdow in Surgut blätterte gerade in seinen Einsatzlisten, als Abukow ihn um die zwei Tage Urlaub nach Tjumen bat, und verzog den schiefen Mund. »Dann fällt der Kühlwagen aus«, sagte er und sah Abukow leidend an. »Wem soll ich das störrische Biest anvertrauen? Nur Sie beherrschen es, Victor Juwanowitsch. Erinnern Sie sich, als Sie das letztemal in Tjumen waren. Da teilte ich den Genossen Neschkanow für Nummer 11 ein. Und was geschieht? Nichts! Der Motor macht bluppblupp und steht. ›Nicht anfassen!‹ habe ich geschrien. ›Keine Werkstatt! Hütet euch davor, ihr Lieben! Mit diesem Ungeheuer kann nur Abukow umgehen, paßt auf … er setzt sich rein, dreht wie ihr den Zündschlüssel um, und der Motor wird singen wie eine Opernsängerin!‹ Und was tat er, als Sie zurückkamen … er sang! Gut, fliegen Sie nach Tjumen, bringen Sie mir zwei gestreifte Hemden mit, Kragenweite 41, und meiner Frau einen glockig geschnittenen Sommerrock mit Blumen drauf, Größe 48. Sollten Sie eine helle Hose für mich sehen, Abukow, hellgrau oder sandfarben, dann gehen Sie nicht daran vorbei. Ich gebe Ihnen vierzig Rubel mit – nein sechzig! Kaufen Sie gute Sachen. – Sie können den Transporthubschrauber nach Tjumen nehmen.«
Abukow bedankte sich und lächelte in sich hinein. Wie kann ein Motor laufen, wenn man ein kleines Schläuchchen abklemmt, dachte er. Ein Kabelchen, das den Stromkreis regelt. Nur ein Handgriff ist's, aber man muß ihn kennen.
Er ging zu seinem Kühlwagen, klemmte das Kabel wieder ab und ließ sich von einem Milchwagen in die Stadt mitnehmen. Im Gewerkschaftshaus hielt ihn der Verwalter fest, der in einem gläsernen Kasten saß und jeden sah, der das Haus betrat oder wieder verließ.
»Ein Anruf für dich, Victor Juwanowitsch!« sagte er. »Aus dem Lager. Dein Onkelchen ist krank. Kränker als erwartet. Eine Katastrophe …«
»Danke, Genosse!« antwortete Abukow gepreßt. »Danke dir. Eine schlechte, aber wichtige Botschaft.«
»Gehört Onkelchen zum Lager?« fragte der Verwalter erstaunt.
»Bei den Autowerkern arbeitet er. Hat's am Herzen. Das Klima in den Sümpfen macht ihn kaputt. Nun ist's soweit. Man wird ihn jetzt endlich nach Tjumen zur Erholung schaffen.«
Sie hat's getan, dachte er, als er auf sein Zimmer ging und sich umzog. Er wusch sich, rasierte sich und zog sein weißes Hemd an. Dann packte er eine kleine Leinentasche mit seinem Nachtzeug und betrachtete sich im Spiegel über dem Waschbecken. Sie hat sämtliche Sträflinge in die Wälder und Sümpfe gejagt. Larissa Dawidowna, wie willst du das vor deinem Gott verantworten? Oder gibt es einen Gott für dich nicht mehr …?
Die alte Qual der Selbstvorwürfe erfaßte ihn wieder. Was mache ich falsch, fragte er sich. Ist alles, was ich tue, nur ein Irrweg? Bin ich ein Versager?
Mit einem Bus fuhr er hinaus zum Flugplatz, durchlief drei Kontrollen, zeigte seinen
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