Ein Kreuz in Sibirien
Verrückter bin ich schon«, sagte er, »aber so verrückt nun doch nicht. Ein Theater.«
»Ich werde im Männerlager eine Bühne aufbauen. Schon nächste Woche fange ich damit an.«
»Und Rassim macht das mit?«
»Ihn interessiert das Experiment. Er will es scheitern sehen, um es dann zu zerschlagen. Kennen wir doch, Rassims Gedankengänge.« Abukow holte tief Luft. Bis zur Kehle klopfte sein Herz. »Genosse Oberst, Sie haben alles, was wir brauchen. Eine Schneiderei, die Kostüme und Bühnenbilder herstellen kann. Ein Holzwerk für die Bühnenausgestaltung. Hunderte von Frauen, die gern mitspielen würden.«
»Alle 2.000 werden mitspielen, auch wenn sie nur auf der Bühne stehen und den Rock heben sollen … Abukow, bevor Sie weitersprechen …«
»Sie haben hier ein Potential an brachliegenden künstlerischen Kräften, um die Sie das Bolschoi-Theater in Moskau beneiden würde. Sie haben Schauspielerinnen und Sängerinnen, Tänzerinnen und Malerinnen. Und wie bei Fleisch – nur ein Vergleich ist das, Genosse Kommandant – gibt es auch bei den Stoffen Schwund oder Abfall, der sich zu Kostümen verarbeiten läßt.«
»Ein listiger Hund sind Sie, Victor Juwanowitsch«, sagte Kabulbekow und wandte sich zum Gehen. Die schöne Dschamila am Schraubstock hatte aufgehört zu feilen und musterte Abukow mit unverhohlenem Interesse. Er nickte ihr zu. Sie lächelte zurück, ihr breites Tadschikengesicht glänzte, die schwarzen Augen flimmerten. »Gehen wir zu mir, Abukow. Und lassen Sie Dschamila in Ruhe! Einen Mann wie Sie würde sie auffressen, stückweise. Fragen Sie Leutnant Boldyrjow; er mußte bei unserer Ärztin Velta Valerianowna Ratnowa im Hospital behandelt werden, weil ihm das Pantherchen ein daumendickes Stück Fleisch aus dem Bauch gebissen hatte. Er brachte es sogar mit in Papier gewickelt, aber man konnte es ihm nicht wieder einsetzen. Abukow, Vorsicht – so eine ist das Teufelchen Dschamila!«
Sie verließen die Werkstatt, gingen hinüber zur Kommandantur und sprachen erst weiter, als sie in Kabulbekows Zimmer saßen und eisgekühlten Johannisbeersaft tranken.
»Man kann sich auch bei Hühnern verzählen«, sagte Abukow leichthin. »Bei Schweinenacken und Dauerwürsten.«
»Jetzt ist es soweit, daß ich Sie auspeitschen lassen sollte!« Kabulbekow sagte es ebenso leichthin, durchaus nicht drohend. »Victor Juwanowitsch, erkennen Sie doch, daß ich konzentriert nachdenke! Ein Theater, eine Zusammenarbeit zwischen mir und Rassim, Frauenlager mit Männerlager – fast unvorstellbar ist das! Die GULAG wird vor Entsetzen erstarren, wenn sie das erfährt.« Kabulbekow schüttelte den Kopf. »Abukow, das ist technisch nicht durchzuführen. Oder sagen wir es anders: menschlich nicht. Meine Frauen würden also zum Theaterspielen in das Männerlager kommen – können Sie sich das vorstellen?«
»Ja, Genosse Oberst.«
»Wollen Sie Sexualmorde inszenieren?«
»Die Männer werden die Frauen mit größter Hochachtung empfangen. Die Garantie übernehme ich. Wenn Ihre Frauen nicht provozieren und sofort Blusen und Röcke wegwerfen …«
»Die Auswahl wird streng sein«, sagte Kabulbekow. »Nur wirkliche Künstler.«
»Sie … Sie sagen zu, Genosse Oberst?« stotterte Abukow. So ergriffen war er, daß es ihn für einen Augenblick schwindelig machte. Wie kann ich dir danken, Gott, dachte er. Sieh hernieder, nicht alle Menschen sind schlecht. Es gibt nicht nur Rassims und Jachjajews.
»Bringen Sie mir erst alle Genehmigungen, Abukow. Dann werde ich meinen Kollegen Rassim besuchen, mich mit ihm streiten, und es wird sich zeigen, ob Ihr verdammt verrückter Plan zu realisieren ist.« Kabulbekow sah Abukow scharf an. »Mit nicht gezählten Hühnern und Schweinenacken hat das nichts zu schaffen!«
»Natürlich nicht, Genosse Kommandant.« Abukow erhob sich von seinem Stuhl. Er wankte leicht. Das Glücksgefühl zitterte in seinen Beinen. »Noch in dieser Woche fliege ich nach Tjumen zu dem Genossen Kulturbeauftragter.«
Am Nachmittag des zweiten Tages im Frauenlager Tetu-Marmontoyai hatte Abukow noch einmal die Flötistin Lilit Karapjetjan im Hospital besucht und sie im Schreibzimmer gefunden, wo die Krankenkarteien geführt wurden und wo die Schauspielerin Margarita Nikolajewna Lusatkaja alle schriftlichen Arbeiten des Lazaretts erledigte. Die beiden Frauen waren allein, bekreuzigten sich sofort beim Eintritt Abukows und senkten die Köpfe. »Gott segne dich, Väterchen«, flüsterten sie. »Segne auch uns
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