Ein Kreuz in Sibirien
Sibirien – es könnte ein Wort von Lenin sein.«
»Theater ›Die Morgenröte‹ …«, wiederholte der feine Genosse nachdenklich. »Das hat kulturellen Klang. Nicht übel, Abukow. Wirklich, es hat Poesie. Morgenröte ist Anfang, Beginn eines neuen Tages, einer neuen Zeit … Gratulation! Dabei bleiben wir!«
Vier Stunden verbrachte Abukow bei dem freundlichen Genossen, man diktierte der Sekretärin die Gründungsparagraphen der neuen Künstlergewerkschaft ›Theater Die Morgenröte‹ und übernahm der Einfachheit halber die Satzungen der Kunstgenossenschaft von Tjumen. Und da, wie festgestellt, Sträflinge keine Genossen sein konnten, trug Abukow außer sich noch Mirmuchsin, Gribow, die Köchin Leonowna, den Leiter der Autowerkstatt des Lagers, den finsteren Rakscha, und die Chefin der Lagerwäscherei, die verhaßte Pulkeniwa, ein. Und dann sagte er mutig: »Ja, und die Ärztin Dr. Tschakowskaja.«
»Eine Ärztin ist immer gut.« Der Kulturbeauftragte nickte freudig. »Ein Volk der Arbeiter und Bauern sind wir zwar, aber das Ansehen steigt sofort, wenn ein Akademiker in der Mitte ist.« Er überflog die Liste und nickte noch einmal. »Das genügt. Das erste Brett der Bühne ist gelegt.«
Als Abukow sich nach den vier Stunden verabschiedete, unterdrückte er die Aufwallung, den Kulturbeauftragten an seine Brust zu ziehen und voll Dankbarkeit auf die Wangen zu küssen. »Sie ahnen nicht, Genosse«, sagte er, und es war wirklich nicht zu ahnen, welch ein Doppelsinn in seinen Worten lag, »was dieser Tag für mich bedeutet. Es ist wie ein Lebensanfang … es ist Morgenröte! Sehen Sie mich an: So sieht der glücklichste Mann in Sibirien aus.«
»Ein wirklich sympathischer Mensch sind Sie, Abukow«, erwiderte der Kulturbeauftragte und gab ihm die Hand. »Wären Sie das nicht, hätte ich Sie längst hinausgeworfen. Noch viel ist zu tun, mein Lieber, ehe der erste Vorhang hochgeht. Eine Frage habe ich da noch: Wo nehmen Sie die Zeit her?«
»Für den Aufbau muß man auf Schlaf verzichten können.«
»Ein heroischer Satz … und Ihnen glaube ich das sogar.«
Am Nachmittag bummelte Abukow durch Tjumen, als habe er federnde Gummisohlen. In seiner Tasche trug er mehrere Schriftstücke, die zwar noch nicht das ›Theater Die Morgenröte‹ als Tatsache dokumentierten, aber ihn dennoch in die Lage versetzten, mit allen Vorbereitungen zu beginnen: mit dem Bau der Bühne in der leeren Autowerkstatthalle; mit der Auswahl der Schauspieler, Sänger, Musiker, Bühnenmaler, Kostümgestalter, Bühnenarbeiter, Beleuchter und Techniker; mit den ersten Besprechungen zu den Proben – und mit dem Kampf gegen Rassim, der sich wie eine Felsenklippe in den Weg stellen würde.
Abukow kaufte die gestreiften Hemden für den Genossen Smerdow, den Glockenrock mit Blumenmuster für die Smerdowa, Größe 48, eine hellgraue Hose für Smerdow – und er kaufte auch noch ein ganz modernes, luftiges, kurzes Sommerkleidchen, Größe 36, für die süße Tichonowa, das Jachjajew ihr schenken wollte. Überrascht entdeckte er einen Buchladen, der unter dem Tisch ungeheure Schweinereien verkaufte: Farbfoto-Magazine aus Dänemark, die – keiner weiß, wie – bis nach Tjumen geschmuggelt worden waren, Großaufnahmen von kopulierenden Paaren – das ist für Gribow, dachte Abukow, und Fotoserien von Homospielen, die Dshuban Kasbekowitsch hell erfreuen würden. Für den heimlichen Schlecker Rassim erstand er eine riesige Pralinenschachtel und eine Flasche Bananenlikör aus Kuba, und Jachjajew brachte er außer dem Kleidchen noch einen neuen Fotoband mit: Die sowjetische Revolution von 1916 bis heute. Schließlich kaufte er für Larissa Dawidowna ein aufklappbares Medaillon, ließ sich bei einem Fotoautomaten ablichten und rahmte sein Porträt, nachdem er es auf das entsprechende Format beschnitten hatte, in das Medaillon.
In Sibirien gab es eben tatsächlich vieles, wonach man in Moskau Schlange stehen würde. Das Neuland hinter dem Ural war das gelobte Land der Sowjetmenschen, war Paradies und Hölle.
Am Freitag in der Frühe kam Abukow gerade zurecht, um sich dem neuen Transport zum Lager JaZ 451/1 anschließen zu können. Er klemmte in seinem Kühlwagen das Kabel wieder an – der Motor sang fröhlich auf –, übernahm die wertvolle, verderbliche Ladung, lieferte bei Smerdow seine Einkäufe ab, wurde umarmt und geküßt und mit »Du bist ein wirklicher Freund!« betitelt und fuhr dann der Kolonne nach, die einen Vorsprung von einer Stunde
Weitere Kostenlose Bücher