Ein Kreuz in Sibirien
Flugberechtigungsschein und kletterte in den letzten großen Hubschrauber, der von Surgut nach Tjumen flog. Mit ihm reisten noch siebzehn Genossen, alles Pipelinespezialisten, Ingenieure und Techniker. Auch ein Kranker war dabei, ein dicker, aufgequollener Mensch, der unter qualvollen Blähungen litt und dem man im Krankenhaus von Surgut nicht helfen konnte.
Wie immer bezog Abukow ein Bett im Arbeitermännerheim, der Durchgangsstation für alle Neuankömmlinge, die Sibirien erobern wollten. In der Kantine aß er einen Sauerbraten mit Nudeln, trank zwei Gläser Kwaß und schlief dann mit wilden Träumen, sah sich mit Larissa im Bett und auf der Erde, auf dem Sofa und im Sessel; sie tobten, als wollten sie sich zerfleischen – aber das Gefühl, das er im Traum empfand, war unbeschreiblich schön.
Der Genosse Kulturbeauftragter, elegant wie immer, in einem blütenweißen Seidenhemd mit kurzem Ärmel, der Hitze wegen diesmal ohne Rock, erkannte Abukow sofort wieder, als er nach einer Wartezeit von einer Stunde vorgelassen wurde. Geduld ist des Russen Seelenschmalz – ohne Geduld hätte es nie ein Rußland gegeben, wie wir es kennen.
»Unser neuer Stanislawski!« rief der vornehme Genosse aus, als Abukow die Tür hinter sich zuzog. »Der große Theaterleiter! Was haben Rassim und Jachjajew gesagt? Wieso tauchen Sie noch hier auf und schreiben mir keine Karte aus einer Irrenanstalt?«
»Jachjajew ist einverstanden, und Oberstleutnant Rassim freut sich zu beweisen, daß Kultur in einem Straflager das Idiotischste ist, was die Sonne je beschienen hat.«
»Kann man es ihm übelnehmen, Genosse Abukow? Rassim ist Soldat, sonst nichts. Seine Geige ist das Gewehr, seine Bühne der Appellplatz, und wenn er einen Text spricht, ist er nicht von Gorkij; sondern es ist ein Kommando. Eine schwere Aufgabe ist's, man sieht es immer wieder, Militär und Politiker davon zu überzeugen, daß die Kunst ein Lebenselement ist, das in jedem Menschen schlummert. Ohne Kunst keine Kultur – das ist logisch –, aber wer versteht auch, daß ohne Kultur jede Politik zum Scheitern verurteilt ist?«
Der Kulturbeauftragte bot Abukow eine Papyrossi an, sah nachdenklich dem Qualm seiner Zigarette nach und wölbte die Unterlippe vor: »So einfach ist das nicht …«
»Was, bitte, Genosse?«
»Ihr Theater. Man muß zuerst eine Gewerkschaft der Künstler gründen. Eine Genossenschaft der Theaterschaffenden. Ohne diese Organisation ist gar nichts möglich. Oder haben Sie gedacht, Sie könnten so einfach auf die Bretter klettern und Theater spielen?«
»Das dachte ich wirklich, Genosse.«
»Naiv sei der Künstler, weltfremd und sternengläubig! Mein lieber Victor Juwanowitsch – ohne Gewerkschaft bekommen Sie gar nichts. Keine staatlichen Zuschüsse, keine Sonderlieferungen für Kostümstoffe, Dekorationen und Bühnenbilder, keine Perücken, keine Schminke, keine falschen Bärte, nichts! Gründen wir also die Genossenschaft. Die Genehmigung erteile ich und melde das neue Theater beim Kultusministerium in Moskau an. Die werden Ihnen eine Urkunde schicken, Ihnen viel Glück und Erfolg wünschen. So ist der normale Weg. Und dann … Ihre Theatertruppe wird aus Häftlingen bestehen …«
»Natürlich!«
»Ein Häftling ist ehrlos. Ehrlose können nicht Gewerkschaftsmitglieder werden. Eine Ehre ist es, einer Gewerkschaft anzugehören.« Der elegante Genosse sah Abukow traurig an. »Das ist das erste Hindernis.«
»Was ist das zweite?« fragte Abukow ahnungsvoll.
»Ihr Sträflingstheater muß anerkannt werden als Instrument staatspolitischer Erziehung. Als Teil der Umerziehung der defätistischen Halunken. Es muß dem sowjetischen Aufbau dienen. Es muß Lenins ewige Ideen propagieren.«
»Genau das, Genosse, war der Anlaß, das Theater zu gründen. Durch Kunst den Menschen erziehen. Welch edle Aufgabe!«
»Ich werde alles versuchen, Sie zu unterstützen, Abukow.« Der Kulturbeauftragte beugte sich vor. »Alles muß einen Namen haben. Wie soll die Genossenschaft heißen? Keine Gründungsurkunde ohne Namen.«
»Ein Vorschlag: Theater des Volkes.«
»Ist es nicht. Es ist ein Theater der Verdammten. Das kann man nicht eintragen.«
»Theater des Friedens …«
»Machen Sie sich nicht lächerlich, Victor Juwanowitsch! Wo ist im Straflager Frieden? Wir wollen doch keinen Hohn provozieren.«
»Theater ›Die Morgenröte‹ …«, sagte Abukow und hielt einen Augenblick den Atem an. »Das klingt poetisch, hoffnungsvoll, politisch. Morgenröte über
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