Ein Kreuz in Sibirien
sibirischen Wege und machte es Mustai möglich, seine Limonade in vier umliegenden Arbeitslagern, an der Erdgas-Trasse und sogar in Surgut zu verkaufen.
Heute nun machte Mirmuchsin sein grünes Monstrum fahrbereit. Er wollte morgen zum Frauenlager, um die Wachmannschaften mit frischer, köstlicher Limonen- und Erdbeerlimonade zu versorgen.
Jachjajew verhielt sich gefährlich still. Keine Razzia im Lager; kein Verhör. Nicht einmal blicken ließ sich der Genosse Kommissar. Schimanskow wurde es unheimlich, und er verfluchte sich und seinen Verrat.
Am Abend, nachdem die Arbeitsbrigaden wieder eingerückt waren und das Essen ausgeteilt worden war, ließ Jachjajew , scheinbar ganz harmlos, den Chirurgen Fomin zu sich rufen. Schimanskow , der an einem der langen Holztische im Mittelgang der Baracke saß und Karten spielte, blickte nicht einmal auf, aber sein Herz begann wie wild zu schlagen. Nun ging es los …
Jachjajew empfing Fomin mit einer völlig fremden Höflichkeit. Er zeigte auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch, sagte: »Bitte, setzen Sie sich, Wladimir Sergejewitsch!« und schob eine Packung Papyrossi über die Tischplatte. Schon das ›Bitte‹ hätte die höchste Gefahr signalisieren müssen, und Fomin nahm auch nur zögernd Platz und klemmte die schlanken, früher einmal lebensrettenden Hände zwischen die Knie. Was er nicht sah, war die aufgezogene Schreibtischschublade neben Jachjajew . In ihr lag, auf einem Stück Papier, das knackig gebratene Hühnerbrüstchen.
»Wie fühlen Sie sich, Fomin ?« fragte Jachjajew und glich einem dicken Fisch, dem man einen Anzug übergestülpt hatte. Fomin war verwirrt. Wo gab es im Lager noch solche Fragen?
»Ich lebe jetzt im vierten Jahr in einem Lager«, antwortete Fomin vorsichtig. »Und so fühlt man sich …«
»Aber ein wenig Stärke ist noch in Ihnen?«
»Sie reicht, um im Sumpf die Entwässerungsgräben auszuheben.«
»Wären Sie auch stark genug, eine Zeitlang in Dunkelhaft zu leben, mit einem Liter warmem Wasser pro Tag als Nahrung?«
»Ich verstehe Sie nicht, Genosse Jachjajew «, sagte Fomin stockend. Etwas Kaltes, Erdrückendes, unbeschreiblich Atemhemmendes legte sich auf seine Brust.
»Wir werden uns blendend verstehen, Wladimir Sergejewitsch«, meinte Jachjajew , griff in die Schublade und blinzelte Fomin zu. »Es gibt Dinge im Leben, die sofort einen innigen Kontakt schaffen. Sehen Sie mal her – ich weiß, daß wir uns sofort verstehen.«
Er hob den Arm, zeigte kurz, was er in der Hand hielt, legte das Hühnerbrüstchen auf den Tisch neben die Papyrossis und lehnte sich genüßlich zurück. Er hatte von Fomin keine Reaktion erwartet, und Fomin blieb auch unbeweglich sitzen, als sehe er einen völlig fremden, ihm unerklärlichen Gegenstand.
»Was mag das wohl sein, mein lieber Genosse Chirurg?« fragte Jachjajew und zog die Worte breit durch seinen Mund. »Wer einmal Schädel aufmeißelte und Hirnrinde zerschnitt, der kann natürlich auch ein Hühnchen tranchieren. Ein Physiker wiegt dann die Portionen peinlich genau nach, und ein General führt die Empfängerlisten! – Ist es so, Wladimir Sergejewitsch?«
»Wenn Sie so etwas sagen, müssen Sie Ihre Erfahrungen haben!« antwortete Fomin kühl. »Wie soll ich Ihnen darauf Antwort geben?«
»Ich habe kein Interesse daran, die Unvorsichtigkeit des Genossen Kommandanten zu wiederholen und das ganze Lager auf dem Platz antreten zu lassen. Ein Mord ist ja nicht passiert – es gibt nur einen dunklen Kanal, durch den Lebensmittel in die Baracke III fließen.« Jachjajew lächelte breit und böse. »Führen wir also Dunkelheit zu Dunkelheit zusammen, mein lieber Chirurg Fomin : Ich verordne Ihnen eine Erholung in meinem › Jaschtschik ‹. Auf unbestimmte Zeit. Bis sich Ihr Erinnerungsvermögen stabilisiert hat. Sind wir uns da einig?«
Fomin nickte stumm. Das Entsetzen lag ihm im Nacken. Jachjajews ›Kasten‹, dieser kleine Anbau an die Palisade neben dem Tor, aus Brettern gezimmert, mit einem Blechdach, fensterlos, auf gestampftem Boden, ohne eine Sitzgelegenheit und so eng, daß man sich nur verkrümmt auf die nackte Erde legen konnte, über die im Frühjahr und im Herbst das Schmelz- oder Regenwasser floß. Im Winter erstarrte es zu blankem Eis. Und im Sommer machte die Sonnenglut das Blechdach des ›Kastens‹ zu einer glühenden Pfanne. Jetzt war Sommer. Am Tag stand das Thermometer bei 37 Grad – fast genauso hoch, wie es im Winter niedrig stand. Drei Tage in dieser winzigen Hölle
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