Ein Kreuz in Sibirien
schleppte man sie in die Baracke zurück, und Jachjajew begab sich endlich zu Rassim , um sich mit ihm zu beraten.
Rassul Sulejmanowitsch saß im Bett und aß die letzten Pralinen, die Abukow ihm aus Tjumen mitgebracht hatte, als Jachjajew klopfte. »Nein! Ich schlafe!« brüllte er, aber Jachjajew trat trotzdem sofort ein und winkte ab, als Rassim zu einem Schwall von Schimpfworten ansetzen wollte.
»Der Chirurg Fomin sitzt im ›Kasten‹«, sagte er ohne Einleitung. »Der General und der Physiker Lubnowitz atmen noch, man weiß nur nicht, wie lange. Bitte, mein lieber Rassul Sulejmanowitsch , kein Aufsehen, kein neuer Großeinsatz – damit erreichen wir gar nichts. Die schleichende Angst ist unser bester Verbündeter.«
»Wieder ein Mord?« stöhnte Rassim und warf die Pralinenschachtel neben sich auf den Boden. »Dieser Sommer hat es in sich!«
»Kein Toter.« Jachjajew setzte sich neben das Bett. »Im Block III fressen sie heimlich wie im Luxushotel. Irgendwie sickern Lebensmittel ein …«
»Hühner!« brüllte Rassim . »Wie damals!«
»Und Schmalz, Gulasch, Butter, Eier, Schokolade – es ergäbe eine lange Liste, wollte man alles aufzählen. Ich frage mich verzweifelt: Wie und woher? Die Schlüsselfiguren schweigen eisern.«
»Wir werden das ganz diskret behandeln«, knirschte Rassim und stieg aus seinem Bett. Daß er nackt war, störte ihn bei Jachjajew nicht. »Ganz diskret, mein Lieber! So diskret, daß ihnen das Blut aus den Poren schwitzt. Wundern werden Sie sich, Mikola Victorowitsch , wie zartfühlend ich sein kann!«
In dieser Nacht wurde die Baracke III auf den Kopf gestellt. Dreißig Soldaten rissen die Pritschen auseinander, schlitzten die Matratzen auf, erbrachen den Dielenboden, durchwühlten die wenigen Habseligkeiten der Sträflinge, durchsuchten jeden Winkel. Rassim und zwei Unterleutnants verhörten im Waschraum jeden einzelnen, traten ihnen in den Hintern, ohrfeigtet sie, drohten Erschießungen wegen Zersetzung der Arbeitsmoral an, und Rassim selbst brüllte sich heiser und schmetterte mit Faustschlägen neunundzwanzig Armselige zu Boden.
Der Erfolg war gering. Man fand ein paar Hühnerknochen, ein mit Marmelade beschmiertes Handtuch und einen leeren Plastikbecher, der nach Schmalz roch. Alles war das, aber es genügte zum Beweis, daß im Block III heimlich gegessen wurde.
Der nächste, den es traf, war Gribow . Der Dicke stand – ganz heller Protest – in seinem gestreiften Schlafanzug im Vorraum des Magazins und wedelte mit den Bestandslisten. Rassims Geschrei ließ er an sich abtropfen wie Wasser an Wachstuch und benutzte eine Atempause, um seinerseits zu brüllen:
»Man will mich anklagen? Mich? Man will mir unterschieben, daß aus meinem Magazin Hühner und andere Dinge verschwinden? Ha, wäre ich nicht so kräftig, ich fiele jetzt um von einem Herzschlag. Mir das! Mir, dessen Korrektheit bis zur Zentrale nach Perm gedrungen ist. Schriftlich habe ich das! Hier, lesen Sie die Listen, Genosse Kommandant: Eingang – Ausgang. Alles quittiert. Vergleichen Sie! Alle Türen stehen Ihnen offen. Nicht ein Schüppchen Mehl fehlt, nicht ein Krümel Nudeln. Über alles ist Buch geführt. Gegengezeichnet von der Küche. Hier! Die Transportlisten aus Surgut. Bitte mit dem Bestand zu vergleichen! Wenn auch nur ein Hühnchen fehlt, gehe ich freiwillig in den Jaschtschik !«
»Der ist bereits besetzt!« sagte Jachjajew böse grinsend.
»Aber ich lasse zehn neue bauen!« schrie Rassim . » Gribow ! Vierundfünfzig Mann haben illegal gefressen! Wo kommt die Ware her?«
»Bin ich ein Prophet?« schrie Gribow zurück und zitterte wie ein Berg, der gleich zum Vulkan wird. »Fragen Sie die, die gefressen haben. Meine Listen stimmen! Bitte, die Türen sind offen. Ich bestehe darauf, daß kontrolliert wird!«
Rassim verzichtete darauf, das große Magazin Stück für Stück durchzuzählen. Er nahm Gribow das Bündel Listen aus der Hand, warf einen Blick darauf und schleuderte die Papiere dann in den Raum.
»Hier ist jemand, der mit uns Katz und Maus spielt«, sagte er später zu Jachjajew , als sie wieder in Rassims Zimmer saßen. »Krank macht mich das. An den Nerven zerrt es, wo kommt die Ware her? Gribows Listen stimmen, davon bin ich überzeugt. Und trotzdem: Hühner, Schmalz, Butter … Im Magazin fehlt nichts. Aus der Küche kann es nie kommen, da sitzt die Iwanowna wie ein Panzer. Mikola Victorowitsch , ich möchte Fomin oder den General an die Wand nageln, Stück für Stück, bis sie
Weitere Kostenlose Bücher