Ein Kreuz in Sibirien
Fingern auf die Tischplatte. Abukow hörte es deutlich. »Ich danke Ihnen, Victor Juwanowitsch , für diese Auskunft.«
»Wie geht es Novella Dimitrowna ?« fragte Abukow bedrückt.
»Interessiert das noch?«
»Ich war es, der sie nach Surgut gerufen und damit ins Unglück gebracht hat.«
» Novella hat einen Antrag gestellt, sie ab sofort aus ihrem Vertrag mit uns zu entlassen. Sie will zurück ins europäische Rußland, weit weg von hier. Am Fenster in ihrem Büro sitzt sie und starrt in die Weite. Ihre Kratzer und Striemen im Gesicht hat sie mit Puder zugedeckt. Nichts sieht man mehr, aber die Wunden in ihrer Seele werden bleiben.«
»Sagen Sie ihr nichts von Jachjajew , ich bitte Sie, Wladimir Alexejewitsch «, bat Abukow eindringlich den Freund. »Ein Schock wäre das, schlimmer als der erste. Jachjajew wird verurteilt werden. Gott wird ihn strafen.«
»Es mag die große Stärke der Priester sein, darauf zu warten«, antwortete Morosow hart. »Mir dauert es zu lange! Die Erde in der Hand kann ich spüren, auf die linde Luft des Paradieses nur hoffen. Beten Sie, Abukow – ich handle!«
Morosow brach das Gespräch ab, ehe Abukow ihm noch zurufen konnte, vernünftig zu sein und sein Gewissen nicht zu belasten. Nun war auch das wieder ein Fehler, dachte er, legte den Hörer auf und ging hinüber zum Hospital. Die Männer, die sich krank gemeldet hatten, standen in Dreierreihe vor der Ambulanz, wie immer von Soldaten mit Hunden bewacht, als seien sie Schwerstverbrecher. Es gehörte zu Rassims psychologischer Zermürbungstaktik.
Professor Polewoi war damit beschäftigt, die Krankenzimmer für den morgendlichen Durchgang herzurichten. Vierundvierzig Betten waren belegt, die meisten mit Schwerkranken: Vom Asbeststaub zerfressene Lungen, faustgroße Furunkel, Magengeschwüre, drei Krebsfälle, schwere Dystrophiker, ein Mann mit großer Mykosis fungoides , Herzkranke und ein Fall von Lymphangitis . Polewoi kam aus einem der Zimmer und blickte Abukow fragend an.
»Hast … hast du sie schon gesehen?« fragte Abukow zögernd. »Wie benimmt sie sich?«
»Larissa Dawidowna ist krank.«
»Krank?«
»In ihrem Zimmer ist sie, läßt keinen herein. Sie hat angerufen, daß Dshuban Kasbekowitsch heute die Selektion vornehmen soll. Weißt du, was los ist mit ihr?«
»Nein …«, antwortete Abukow zögernd.
»Wer soll es sonst wissen? Und wer kann helfen außer dir? Geh zu ihr! Wir haben nachgedacht über euch beide. Das Überleben allein ist wichtig, und unser Leben liegt hier in Larissas Hand. So muß man das sehen, Victor Juwanowitsch . Ist's nicht so?«
Abukow nickte wortlos, umarmte Polewoi und ging hinüber zu Larissas Wohnung. Die Tür war verschlossen, und er mußte lange klopfen, ehe er ihre Stimme hörte.
»Wenn Sie's sind, Dshuban Kasbekowitsch – ich habe nichts mehr zu sagen. Sie übernehmen Selektion und Visite! Keine Diskussion darüber!«
»Ich möchte dich sprechen«, sagte Abukow durch die Tür.
»Hier ist ein Krankenhaus und kein Kühlhaus. Der Genosse Gribow wird Sie anhören.«
»Larissa …«
»Die Liste für die Krankenverpflegung liegt schon in der Küche. Was wollen Sie noch?«
»Es wäre gut, wenn du die Tür aufschließt.«
»Es wäre besser, wenn Sie Kranke in Ruhe ließen!«
»Ich brauche deine Hilfe, Larissa. Um Morosow geht es.«
»Wie kann jemand helfen, der selbst Hilfe braucht?« schrie sie gegen die Tür. »Setzen Sie sich in Ihren Wagen, Abukow , und fahren Sie davon! Aber vergessen Sie den Umweg nicht über Novella Dimitrowna !«
Abukow zögerte, dann drehte er sich um, ging hinunter zur Eingangshalle. Dort kam ihm aufgeregt Dshuban entgegen, in einem auf Figur gearbeiteten Arztkittel und mit glänzenden, pomadisierten Haaren. Er duftete nach einem süßlichen Parfüm.
»Oh, mein lieber Victor Juwanowitsch !« rief er und legte den Arm um Abukow s Schulter. »Sie kommen von Larissa Dawidowna ? Was hat sie denn? Jagt mich an die Arbeit, von der ich wenig verstehe. Chirurg bin ich, das sage ich immer wieder. Wie soll ich einen Kranken beurteilen, der mich anhustet und dabei die Augen verdreht? Ist er ein Simulant? Bei mir gibt es keine Simulanten – wen ich aufschneide, der kann mich nicht täuschen. – Was macht Larissa?«
»Sie läßt keinen zu sich.«
»Auch Sie nicht?«
»Stünde ich sonst hier?«
»Eine komplizierte Situation«, seufzte Owanessjan und sah hinaus auf die wartenden Kranken. »Gleich wird man wieder sagen: Owanessjan , der Menschenschinder! –
Weitere Kostenlose Bücher