Ein Kreuz in Sibirien
Welch ein trüber Tag!« Er rannte hinüber zur Ambulanz, wo schon vier Sanitäter standen. Abukow verließ das Hospital und ging, nachdem er mitten auf dem großen Platz gezögert hatte, mit festem Schritt weiter.
Die Tschakowskaja blickte ihm durch die Gardine nach. Sie schluchzte wild, ballte die Faust. Als Abukow weiterging und nicht zurückkehrte, biß sie sich in die Faust, bis sie Blut an ihren Lippen spürte.
Genau um die Mittagszeit, als Rassim vor einem dicken gebratenen Filet saß und einen Schluck Wein zum Auftakt trank, meldete sich der Posten der äußeren Sperre. Der Feldwebel in der Telefonzentrale hatte ihn erst beschimpft, wieso er am Mittag schon besoffen sei, aber dann stellte er doch zum Kommandanten durch, verwirrt von dem, was er hören mußte.
Wütend nahm Rassim den Hörer auf und vernahm von der Sperre eine stotternde Stimme: »Ein Lastwagen steht hier … Im Lastwagen sitzen Frauen, lauter Frauen … Hören Sie, sie singen!« Rassim hörte ganz schwach einige Töne, dann war der Posten wieder da: »Der Genosse Oberst sagt, Sie hätten die Frauen bestellt … Was soll ich tun?«
»Die Straße freigeben, du Idiot!« brüllte Rassim . »Hält der Affe einen anderen Kommandanten an!« Er warf den Hörer hin, stürzte das Glas Wein hinunter und verschlang das Filet, als würde Kabulbekow es ihm wegfressen. Dann fuhr er in seinen Uniformrock.
Belgemir Valentinowitsch und seine wilden Weiber waren gekommen.
Kurz darauf spürte jeder im Lager, daß etwas Außergewöhnliches passiert sein mußte, denn Rassim ließ die gesamte Hundestaffel alarmieren und vor der Halle III – dem ›Theater‹ – aufstellen. Alle Innendienstler, also die Strafgefangenen in Küche, Wäscherei, den Werkstätten, im Hospital, im Holzlager und beim Barackendienst, sowie die Säuberungskommandos in der Mannschaftskaserne, beim Gartenbau und Straßendienst, ferner die Auserwählten, die Rassim , Jachjajew und die Offiziere bedienten oder bei Gribow im Depot arbeiteten – sie alle erhielten Befehl, die Häuser nicht zu verlassen. Wer sich draußen auf dem Platz blicken ließ, werde von den Hunden gejagt werden, ließ Rassim verkünden. Das große Lagertor wurde geschlossen, die Posten auf den Wachttürmen durften nicht mehr dösen oder Schach spielen, sondern hockten mißmutig hinter ihren Maschinengewehren. Niemand wußte, was eigentlich los war. Gerüchte, die sofort kursierten, wollten wissen, daß ein neuer Transport ankommen werde mit ganz gefährlichen Politischen, Dissidenten, Regimegegnern, von Amerika bezahlten Saboteuren, Spionen der NATO – alle in Moskau gesammelt, um sie jetzt für immer im Lager JaZ 451/1 –, dem berüchtigten Ort in der Taiga, in Rassims ›Strenger Verwahrung‹ (wie es amtlich heißt) verschwinden zu lassen. Nur – so rätselte man –, in welchem Block sollten sie unterkommen? Es gab keine Isolierbaracke, wo man die ganz Gefährlichen hätte unterbringen können. Ob eine neue Baracke gebaut wurde, hinten an der Palisade, gegenüber dem Friedhof?
Gerüchte über Gerüchte … Die Wahrheit kannten nur Rassim und natürlich auch sofort Jachjajew , der gab die Neuigkeit per Telefon an die Tschakowskaja weiter, doch sie kam aus ihrem Zimmer nicht heraus. Abukow erfuhr es von Rassim selbst, er erschien im Theatersaal, wo Abukow mit dem Bühnenbildner – einem ehemaligen Architekten – die Möglichkeiten durchsprach, in den gestohlenen Möbeln von Bataschew die ›Lustige Witwe‹ von Lehár aufzuführen. Es hatte sich herausgestellt, daß davon die meisten und besten Noten vorhanden waren und die ›Arrangeure‹ wenig Mühe haben würden, daraus eine Partitur und die Gesangsstimmen herauszuschreiben. Bei ›Tannhäuser‹ und ›Lohengrin‹ war das schwieriger – mit nur zwei Geigen, einer Trompete, einer Handharmonika und einigen selbst geschnitzten Holzflöten konnte man keinen guten Klang zaubern – ganz abgesehen davon, daß man als Pauken zwei leere Benzinfässer benutzen mußte. ›Die lustige Witwe‹ war mit solchen Improvisationen leichter zu bewältigen.
»Haben Sie bei Larissa gut gefrühstückt?« fragte Rassim gehässig und mit breitem Grinsen, nachdem er einen Blick auf die am Bühnenboden liegende Skizze des Bühnenbildes geworfen hatte. »Neunzehn Weiber rollen heran! Alle für Sie, Victor Juwanowitsch . An der Spitze Ihr Gönner Oberst Kabulbekow .« Er setzte sich auf das Spielpodium und klopfte mit einer dicken, aus Leder geflochtenen Hundepeitsche gegen
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