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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Transportwaggons haben wir genug – und sie zu füllen, das hat noch nie Mühe gemacht. Meine süße Larissa Dawidowna, können Sie den Ob aufhalten, wenn Sie sich mitten in die Strömung stellen und die Arme ausbreiten?«
    »Man sollte die übrige Welt alarmieren!«
    »Die übrige Welt will Erdgas aus Sibirien und keinen erhobenen Zeigefinger von Larissa Tschakowskaja. Schweigen Sie, und freuen Sie sich, daß Sie weiterleben dürfen.«
    Es war, wie gesagt, ein fürchterlicher Winter.
    Und als die Schneeschmelze begann, wurde es, wie erwartet, noch schlimmer.
    In diesen Wochen befand sich Victor Juwanowitsch Abukow auf dem Marsch durch den Ural. Er sah struppig aus wie ein vom Winter gebeutelter Wolf – aber er fühlte sich prächtig und war voll guten Mutes.
    Ein ungewöhnlich warmer Tag war's. So ein richtiges Frühlingswetter, wie man es sich wünscht. Die Birken hingen voller Blüten, es duftete aus allen Richtungen, die noch sumpfigen Wiesen färbten sich zaghaft in allen Farben, denn sobald der Schnee sich verwässerte und die ersten wärmenden Strahlen aus dem blaßblauen Himmel fielen, regte sich allerorts mit ungeheurer Kraft neues Leben. Die letzten Schneehühner flatterten durch die Lüfte, die Hermeline färbten sich schon bräunlich, Eichhörnchen und Frettchen flitzten umher, an den Bächen und Flüssen, den natürlich gestauten Weihern und Seitenarmen der Wasserstraßen kontrollierten die Biber, was der Winter von ihren Dämmen übriggelassen hatte – und wer jetzt durch den Wald streifte, konnte den noch verschlafenen Bären begegnen oder einem Rudel Wölfe, denen das Fressen jetzt vor den Fängen herumlief.
    Eine schöne Zeit, wahrhaftig. Die Welt dehnte sich, zerbrach das letzte Eis auf den Flüssen. Der Boden, voll Schmelzwasser wie ein satter Schwamm, roch würzig, als sei jede Krume ein Kraut. Ein harter Winter war's gewesen, länger als normal, eisiger als seit Generationen. Die Bauern hatten hinter ihren mit Zeitungen verklebten Fenstern gestanden, tief und schwer geseufzt und gemurmelt: »Die Saat kommt zu spät in die Furche. Was soll nur werden? Ein Hungerjahr wird's wieder werden, wir werden die Körnchen zählen müssen.«
    Aber plötzlich, wirklich über Nacht, kam Ende Mai der warme Wind aus dem Süden, das Eis auf den Flüssen zerkrachte mit Kanonendonner, und über die Bäume fiel ein hellgrüner Schimmer. Als die ersten Lerchen in den sonnengoldenen Himmel aufstiegen, nahmen die Bauern die Mützen ab und rieben sich die Hände, und wer noch ein Gläubiger war, schlug das Kreuz. Die ganz Glücklichen küßten sogar ihre Weiber und riefen aus: »Nun ist's geschafft! In die Hände wird jetzt gespuckt!«
    Abukow war schneller vorangekommen, als er es sich erhofft hatte. Mit großen Schwierigkeiten hatte er gerechnet, mit vielen Umwegen, mit gefährlichen Kontrollen und einem öfteren Untertauchen in den Städten, die er auf seinem Weg nach Sibirien passierte. Nirgendwo ist man sicherer als in einer großen Stadt – das ist eine alte Weisheit. Ein Mensch unter vielen Menschen ist anonym – auf dem Land kennt jeder jeden.
    »Wenn Sie vor Winteranbruch in Surgut ankommen, haben Sie Glück!« hatte Monsignore bei einer der letzten Einsatzbesprechungen in Rom gesagt. »Nur kein Risiko eingehen, Stephanus – pardon: Victor Juwanowitsch. Nur keinen übermäßigen Mut oder gefährlichen Ehrgeiz. Sicherheit geht vor alles! Lassen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen, um sich voll in den Lagerkomplex zu integrieren. Es kommt nicht auf Wochen an – Sie haben ein ganzes Leben zur Verfügung.«
    Abukow war deshalb sehr erstaunt, daß sein bisheriger Weg von der ungarisch-sowjetischen Grenze bis in den Ural geradezu normal verlaufen war. Mit seinem alten Fahrrad war er von Beregowo über Mukaschewo nach Stanislaw gefahren und hatte dort das Rad an die Wand des Bahnhofsgebäudes gelehnt. Dann hatte er den ausgehängten Fahrplan studiert und sich entschlossen, zunächst bis nach Kiew zu fahren. Kiew ist eine Riesenstadt, da fällt ein einzelner unter 1,9 Millionen Einwohnern nicht auf.
    Abukow erkundigte sich am Fahrkartenschalter umständlich, ob man eine Garantie übernehme, daß der Zug bis Kiew auch nicht entgleise. Er fahre zum erstenmal mit solch einem Vehikel. Man höre ja Wunderdinge von verbogenen Schienen und vereisten Weichen. Als der geduldige Bahnbeamte ihm erklärt hatte, auf der Strecke nach Kiew sei seit ihrem Bestehen noch nie ein Zug entgleist, löste Abukow eine Fahrkarte und

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