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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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zu einer Opernaufführung nach Tjumen – aber Novella betrachtete ihn nur wie einen Gummiball ohne Luft und sagte nein.
    So blieb es den ganzen Winter über. Im Lager starben neunundsechzig Mann an Entkräftung und Lungenvergiftung. Der Asbeststaub, der beim Umwickeln der Rohre mit Asbest entstand, zerfraß die Lungen. Neun Sträflinge begingen Selbstmord, zwei starben in dem berüchtigten Jaschtschik, dem ›Kasten‹, der Privathölle von Jachjajew.
    Von Pjotr, dem schmalen Dichter, dem eine Eisenbahnschwelle auf den Kopf gefallen war, sprach niemand mehr. Die Gemeinden, die er gegründet hatte, bröckelten auseinander. Die Angst zerstörte sie. Es fehlte Pjotrs mutiges Wort und sein Beispiel, zu leiden und doch voll Hoffnung zu sein. Wenn Gott es zuließ, daß eine dumme Eisenbahnschwelle die Arbeit von zwei Jahren zerstörte, was war das dann für ein Gott? Er schien schwach zu sein wie der armseligste Sträfling, dem wegen Vitaminmangels die Zähne ausfielen. In der Bibel konnte man lesen von der wundersamen Speisung der Fünftausend – aber wichtiger war hier im Lager die blecherne Schüssel, mit der man abends am Suppenkessel vorbeimarschierte. Wieviel Bohnen hatte man bekommen? War ein Stückchen Fleisch dabei? Schwammen auch keine Würmer in der Suppe? Sah man ein Fetzchen Fisch, war der Kohl auch nicht angefault? Und der Kanten Brot … hatte man verschimmeltes Roggenmehl gebraucht? Bekam man Magenkrämpfe nach muffigen Graupen?
    Am Ende des langen Winters kam der Kommandant des Lagers JaZ 451/1, Oberstleutnant Rassim, in arge Verlegenheit. Die Lagerärztin Larissa Dawidowna teilte ihm knapp mit: Wenn der Arbeitseinsatz weiter so rigoros befohlen wird, muß man die Kranken im Hospital stapeln wie die Bretter an der Trasse.
    »Ich jage sie mit den Hunden zur Arbeit!« schrie Rassim. Er hatte das Hospital besichtigt und alles, was noch gehen konnte, hinaus in den Frost getrieben. »Sie sollten ein Hospital in Jalta oder Sotschi übernehmen, wo man Fettbäuche wegmassiert. Wieso können diese Halunken nicht arbeiten, Larissa Dawidowna?!«
    »Sie sind krank, Genosse Oberstleutnant.«
    »Können sie essen?« Rassim rollte wild mit den Augen.
    »Ja. Natürlich.«
    »Können sie scheißen?«
    »Darauf antworte ich nicht.«
    »Wer scheißen kann, kann auch arbeiten!« brüllte Rassim. »Stellen Sie keine Naturgesetze auf den Kopf, Genosse Ärztin. Morgen früh ist Ihr Hospital leer, oder ich fege die Betten mit meinen Hunden leer. Staunen werden Sie, wie sportlich Ihre Kranken über den Platz hüpfen.«
    Um Larissa Dawidowna zu ärgern, nur darum ging es, ließ Rassim die in der klirrenden Kälte auf dem Appellplatz Zitternden einzeln in das Hospitalzimmer rufen und von Larissas Kollegen Dshuban Kasbekowitsch Owanessjan untersuchen. Der Chirurg stöhnte und schwitzte, und als die Hälfte untersucht worden war, sagte er zu Rassim: »Rassul Sulejmanowitsch, was soll man jetzt tun: Für alle, die nun hereinkommen, gibt es nur die Diagnose ›Eiszapfen‹. So, mit Verlaub und Respekt, geht es auch nicht. Sie haben ein Plansoll zu erfüllen, aber mit solchen Methoden erreichen Sie es nie. Um eine Spitzhacke zu schwingen, muß ein bestimmtes Potential an Kraft vorhanden sein. Das zu erhalten, haben wir hier das Hospital. Sonst hätte es keinen Sinn. Zum Umbringen braucht man keine Ärzte.«
    Rassul fauchte wie ein Tiger, gab dem Schemel, auf dem gerade ein Patient saß, einen Tritt, der Kranke rollte gegen die Wand und blieb dort regungslos liegen in der weisen Voraussicht, daß jede Bewegung seine Situation nur noch verschlimmern würde – und wartete ab, bis Rassim das Zimmer verlassen hatte.
    »Ich danke Ihnen, Dshuban Kasbekowitsch«, sagte Larissa später, als alle Kranken wieder in den Betten oder auf den Notlagern in den Gängen lagen. Ein grober Überblick ergab bereits jetzt, daß mindestens neunzehn Männer Erfrierungen davongetragen hatten und für längere Zeit ausfielen. Rassims Aktion war ein Rohrkrepierer geworden. »Ich hätte Ihnen, ehrlich gesagt, diesen Mut nie zugetraut.«
    »Mut, meine Schöne!« Dshuban grinste verlegen und rupfte an seiner blumengemusterten italienischen Krawatte. »Sprechen Sie nicht davon. Unter uns: Ich war nur zu faul, alle zu untersuchen.«
    »Ihre Faulheit hat Leben gerettet.«
    »Da sehen Sie mal, wie wertvoll Unzulänglichkeiten sein können. Stellen wir fest: Ich habe bei Gelegenheit eine Gegenleistung bei Ihnen gut.«
    »Ich löse sie ein, Dshuban.« Larissa gab ihm

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